Ein Loblied auf die Tränen
Im Sommer 1982 fährt ein Schulbus von der Grundschule in Barbing los. Ein letzter Blick fällt auf das Gebäude, in dem ich vier Jahre zur Schule gegangen bin. Das Bild verschwimmt. Ich weine.
Nein, es war ganz sicher nicht der traurigste Moment in 50 Jahren auf diesem Planeten. Und es war wohl auch nicht das erste Mal, dass ich geweint habe. Das Urtrauma jedes Menschen sei die Geburt, heißt es. Die ersten Tränen werden als Säugling geweint.
"Warum Menschen weinen, ist in der Forschung umstritten. Seit sich Charles Darwin als einer der ersten dieses Themas annahm, werden vorrangig zwei theoretische Sichtweisen kontrovers diskutiert, die sich jedoch nicht unbedingt ausschließen müssen: Das Weinen als Form der Kommunikation und sozialen Interaktion, also des Sozialverhaltens, und das Weinen als Schutzreaktion des Körpers und der Psyche, die dem Stress- und Spannungsabbau oder, allgemeiner, der besseren Verarbeitung besonders emotionaler Eindrücke dient.", informiert Wikipedia.
Emotionales Weinen soll bei Frauen häufiger vorkommen als bei Männern. Das ist zum einen ein Klischee, zum anderen schade. Tränen schützen zuerst einmal einfach das Auge: Unsere Tränen beinhalten Fett, Salz, Wasser und antibakterielle Stoffe, die unsere Augen vor Infektionen schützen.
Daneben haben sie in Stresssituationen eine wichtige Funktion: Tränen lösen unsere Gefühls- und Körperanspannung. Nach dem Weinen fühlt man sich körperlich und emotional erleichtert und ruhiger. Weinen ist also eine Art Ventil.
Kein Wunder also, dass gerade traurigen Menschen empfohlen wird, zu weinen. So finden wir es auch bei Thomas von Aquin, dem einflussreichen Kirchenlehrer.
Nach meiner Erfahrung geschieht Weinen nicht da, wo man es erwarten würde. So konnte ich weder beim Ende meiner ersten Beziehung noch beim Tod meiner Frau oder meines Vaters weinen. Stattdessen ist das Weinen mit konkreten Schlüsselreizen wie Erinnerungsorten, Gerüchen und Musik verbunden.
Wenn ein Mensch weint, ist es wichtig, diese Emotion zuzulassen, auch wenn sich unsere (europäische) Kultur damit schwertut. Die Psychologie empfiehlt:
1. Ich halte die Tränen des anderen aus, lasse sie zu und gebe meinem Gegenüber Zeit zu weinen.
2. Dabei signalisiere ich mit Worten und/oder Gesten, „es ist (für mich) in Ordnung, dass du weinst. Weinen tut gut.“ Ich ermutige den anderen, die Tränen laufen zu lassen, anstatt das Weinen zu unterdrücken.
3. Ich bin mitfühlend und schweigend da.
4. Danach kann ich fragen: was ist es genau, dass du weinst? (Weinen kann, aber muss nicht zwangsläufig eine Folge von Traurigkeit sein.)
5. Ich versuche, den anderen und die Ursachen seines Weinens zu verstehen, gebe Zuspruch und gebe eine positive Deutung (Weinen als Spannungsabbau, Reinigung, Entlastung).
Die Bibel, Sammelbuch der Erfahrungen von Menschen mit Gott, ist voll von Szenen, in denen geweint wird. Das Weinen ist intensiver Erfahrungsort der menschlichen Existenz. Im Weinen wird uns bewusst, was unserem Leben Tiefe und Sinn gegeben hat. Das Weinen ist Ausdruck der Leidenschaft und der Liebe, der Sehnsucht und der Überforderung. Weinen geschieht mitunter mitten in der Fußgängerzone. Im Weinen spüren wir unsere Fremdheit in der Zeit und sehnen uns nach der Geborgenheit, der wir nun in dieser Welt beraubt sind. Weinen ist Sehnsucht nach dem verlorenem Paradies. Weinen ist Gottesbegegnung und Ewigkeit in der Zeit.