Ideal und Realität einer katholischen Ikone
Entschuldigung, aber ich muss leider in diesem Beitrag eine katholische Überzeugung schleifen:
Das liebende Paar, das Leben zeugt, ist das wahre, lebende „Bildnis“ (nicht jenes aus Stein und Gold, das der Dekalog verbietet), das imstande ist, den Gott, der Schöpfer und Erlöser ist, darzustellen. (AL 11)
Sicher?
Träume sind schön! Viele Träume drehen sich bis heute darum, zu heiraten und Kinder zu haben. Trotz aller Enttäuschungen, die Menschen in und mit Familien erleben, ist das klassische Bild von Vater, Mutter und Kindern weiterhin prägend. Auch kirchliche Trauungen sind gefragt und unterstreichen das Ideal. Wenn ich an meine eigene Kindheit denke, kenne auch ich die Geborgenheit der klassischen Familie. Das Idyll war doppelt verstärkt: ich wuchs im Hafen auf. Dadurch waren Eltern und Geschwister unausweichlich die zentralen Bezugspersonen. Und ich war der Jüngste. Das verstärkte die Geborgenheit und Nestfunktion.
Papst Franziskus beschreibt die Idylle der christlichen Familie gleich am Beginn seines nachsynodalen apostolischen Schreibens Amoris laetitia:
Die Freude der Liebe, die in den Familien gelebt wird, ist auch die Freude der Kirche. So haben die Synodenväter darauf hingewiesen, dass trotz der vielen Anzeichen einer Krise der Ehe » vor allem unter den Jugendlichen der Wunsch nach einer Familie lebendig [bleibt]. Dies bestärkt die Kirche
Das liebende Paar, das Leben zeugt, ist die katholische Ikone. Das gesamte Sakrament der Ehe inklusive der Zeugung von Nachkommen und lebenslanger Treue ist auf diesen Grundgedanken zurückzuführen. Und wenn man sich in katholischen Pfarrgemeinden umschaut, sind auch viele pastorale Angebote diesem Ideal gewidmet.
Amoris laetitia benennt allerdings auch gleich zu Beginn die Risse, die das Bild in der Praxis trüben. Papst Franziskus betont am Ende des entsprechenden Abschnittes:
In diesem kurzen Überblick können wir feststellen, dass das Wort Gottes sich nicht als eine Folge abstrakter Thesen erweist, sondern als ein Reisegefährte auch für die Familien, die sich in einer Krise oder inmitten irgendeines Leides befinden. Es zeigt ihnen das Ziel des Weges, wenn Gott » alle Tränen von ihren Augen abwischen [wird]: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal« (Offb 21,4).
Amoris laetitia wird gerade da ein starker Text, wo die kirchliche Lehre sich der Selbstkritik aussetzt. Zwar wird das Bild der Ehe als Ideal betont, aber es wird anerkannt, dass die Praxis begründet davon abweichen kann.
Lange Zeit glaubten wir, dass wir allein mit dem Beharren auf doktrinellen, bioethischen und moralischen Fragen und ohne dazu anzuregen, sich der Gnade zu öffnen, die Familien bereits ausreichend unterstützten, die Bindung der Eheleute festigten und ihr miteinander geteiltes Leben mit Sinn erfüllten. Wir haben Schwierigkeiten, die Ehe vorrangig als einen dynamischen Weg der Entwicklung und Verwirklichung darzustellen und nicht so sehr als eine Last, die das ganze Leben lang zu tragen ist. Wir tun uns ebenfalls schwer, dem Gewissen der Gläubigen Raum zu geben, die oftmals inmitten ihrer Begrenzungen, so gut es ihnen möglich ist, dem Evangelium entsprechen und ihr persönliches Unterscheidungsvermögen angesichts von Situationen entwickeln, in denen alle Schemata auseinanderbrechen. Wir sind berufen, die Gewissen zu bilden, nicht aber dazu, den Anspruch zu erheben, sie zu ersetzen. (AL 37)
Leben ist nicht perfekt. Und doch würden wir uns das manchmal wünschen. Was ist, wenn Träume zu Albträumen werden? Was ist, wenn das Familienglück nicht perfekt ist? Was ist, wenn Krankheiten und Unglück den Alltag verdunkeln. An Familien zu denken heißt auch, an die zerbrochenen Träume denken. Weil Leben nicht perfekt ist. Und weil die Bruchstücke ihren eigenen Wert haben. Weil die Träume vom Wunderland nur im Kopf sind. Weil wir vom Leben gebrochen und doch stark sein können. Darum sollten wir nicht denen trauen, die uns vorgaukeln perfekt zu sein. Aus den zerbrochenen Teilen unserer unerfüllten Sehnsucht kann eine neue Stadt entstehen. Auch aus den gebrochenen Biographien von Kindern und Jugendlichen, Auch aus ihren Grenzen und Krankheiten.
In Filmen gibt es Verwicklungen und Krisen, aber am Ende ist alles gut. Das Leben ist anders.
Die Leipziger Poetin Malin Friese schreibt:
"Du musst nicht perfekt sein. Weder perfekt aussehen, noch perfekt sprechen und schreiben, noch perfekt Klavier spielen oder singen. Du musst nicht perfekte Konversationen führen oder perfekte Kunst kreieren oder perfekte Beziehungen haben. Niemand sollte so etwas erwarten. Und wenn es jemand tut, rauben diese negativen Vorstellungen die Freude am Leben schneller als jede negative Erfahrung."
Diese Welt ist letztlich eine Brücke in die Ewigkeit. Wenn wir aus christlicher Perspektive über Ehe und Liebe sprechen, sollten wir nicht vergessen, zu sehen, was uns Jesus im Blick auf den Himmel über unser Zusammenleben dort verrät:
Da traten die Sadduzäer zu ihm, die sagen, es gebe keine Auferstehung; die fragten ihn und sprachen: Meister, Mose hat uns vorgeschrieben (5. Mose 25,5-6): »Wenn jemandes Bruder stirbt und hinterlässt eine Frau, aber keine Kinder, so soll sein Bruder sie zur Frau nehmen und seinem Bruder Nachkommen erwecken.« Nun waren sieben Brüder. Der erste nahm eine Frau; der starb und hinterließ keine Kinder. Und der zweite nahm sie und starb und hinterließ auch keine Kinder. Und ebenso der dritte. Und alle sieben hinterließen keine Kinder. Zuletzt nach allen starb die Frau auch. Nun in der Auferstehung, wenn sie auferstehen: Wessen Frau wird sie sein? Denn alle sieben haben sie zur Frau gehabt. Da sprach Jesus zu ihnen: Irrt ihr nicht darum, weil ihr weder die Schrift kennt noch die Kraft Gottes? Denn wenn sie von den Toten auferstehen, so werden sie weder heiraten noch sich heiraten lassen, sondern sie sind wie die Engel im Himmel. (Mk 12, 18 - 25)
Die Liebe vergeht nicht. Die Liebe, die zwei Menschen verband, endet nicht im Tod. Und wenn es mehrere Menschen sind, die jemand geliebt hat, werden sich all diese Menschen wieder begegnen. Aber unsere Begrenzung endet im Tod. In Gottes Licht sind wir am Ende mit allen verbunden. Deshalb ist unsere Aufgabe, Liebe zu schenken.
Liebe schenken. Was bedeutet das? Beim Jahresgedächtnis zum Tod meiner Frau hatte ich am Ende gesagt, dass wir die Liebe, die wir uns gegenseitig gegeben haben, weiterschenken wollten. Wir konnten das nicht durch eigene Kinder. Dies hat den Blick geweitet auf Kinder, die nicht bei leiblichen Eltern aufwachsen können. Martinas Mutterliebe aber war die gleiche wie bei leiblichen Kindern. Meine Angst und Sorge waren die gleichen wie bei einem leiblichen Vater. Es sind unsere Kinder.
Gleichzeitig sind Familien mit Kindern immer aufgerufen, ihre Liebe weiter in die Welt zu geben. Liebe, die nur an die eigene Familie oder die eigene Gemeinschaft denkt, ist oftmals kollektiver Egoismus.
Die Fähigkeit "zu lieben und lieben zu lehren" ist in manchen bürgerlichen Familien mangelhaft ausgeprägt. Fähigkeit zur Zeugung macht keinen guten Vater. Fähigkeit, ein Kind zur Welt zu bringen macht nicht eine gute Mutter. Oft genug löst der Blick auf das Ideal mehr Leid aus als die Akzeptanz der Realität. Es gibt Kinder, die von zwei Männern oder zwei Frauen aufgezogen werden und die gerade in diesen Familien Liebe erfahren. Und Liebe ist tatsächlich das Zentrum jeder gelungenen Beziehung. Unbestritten bietet Adoption besondere Herausforderungen. Davon werde ich noch ausführlicher schreiben.
Vielleicht kommt man dem tieferen Sinn des Ideals näher, wenn man schlicht von den Kindern ausgeht. Kinder brauchen verlässliche Begleitung und Zuwendung am Weg in dieses Leben. Nicht immer müssen das die leiblichen Eltern bieten. Manchmal brauchen sie Unterstützung. Manchmal treten sie in den Hintergrund. Manchmal kann es hilfreich sein, Eltern das Kind zu entziehen, um Schaden vom Kind abzuwenden oder weil die leiblichen Eltern schlicht überfordert sind. Der Blick auf ein Ideal schadet auch da mehr als es hilft.
Das katholische Sakrament beleuchtet ein Ideal. Selbst konservative bürgerliche Familien aber erreichen es nicht. Insofern sollte der Anspruch nicht sein, perfekt zu sein. Am Ende gibt es genau ein wichtiges Kriterium: die Liebe.
Mit Papst Franziskus unterstreiche ich, dass Liebe kein Provisorium ist. Sich einem Menschen zuwenden, bedeutet Verantwortung. Je näher ich einem Menschen komme, desto wichtiger ist, ihn mit seiner ganzen Person als gleichberechtigtes Du anzunehmen. Seiner eigentlichen Bedeutung nach widerspricht Liebe der Kultur des Provisoriums:
Ich beziehe mich zum Beispiel auf die Schnelligkeit, mit der die Menschen von einer Liebesbeziehung zur anderen wechseln. Sie meinen, dass man die Liebe wie in den sozialen Netzen nach Belieben des Konsumenten ein- und ausschalten und sogar schnell blockieren kann. (AL 39)
Manche Beziehung ist ein Strohfeuer. Rasch ist das Paar im Bett. Rasch verfliegt die Begeisterung. Klar, manchmal ist es besser, sich zu trennen. Den anderen freigeben, nimmt ihn als eigenständige Person ernst. Selbst zu erkennen, dass ein gemeinsamer Weg nicht möglich ist, kann Ausdruck von Reife sein. Doch gerade dann, wenn der Weg nicht mehr weitergehen kan, bleibt die Herausforderung, sich weiterhin zu lieben. Gerade für Kinder ist es wichtig, dass Trennungen so erfolgen, dass die Kinder nicht zu sehr leiden müssen.
AL 65 spricht davon, dass Jesus selbst in eine Familie geboren ist. Papst Franziskus ermutigt, sich in das Geheimnis der Geburt Jesu zu vertiefen.
Wir müssen uns in das Geheimnis der Geburt Jesu vertiefen, in das „Ja“ Marias bei der Verkündigung des Engels, als das Wort in ihrem Schoß aufkeimte; auch in das „Ja“ Josefs, der ihm den Namen Jesus gab und sich um Maria kümmerte; in das Fest der Hirten bei der Krippe; in die Anbetung der Sterndeuter; in die Flucht nach Ägypten, bei der Jesus am Schmerz seines ins Exil geschickten, verfolgten und gedemütigten Volkes Anteil nimmt; in die religiöse Erwartung des Zacharias und in die Freude, welche die Geburt Johannes des Täufers begleitet; in die für Simeon und Hanna erfüllte Verheißung im Tempel und in die Bewunderung der Lehrer, als sie die Weisheit des heranwachsenden Jesus vernahmen. Und später müssen wir vordringen in die dreißig langen Jahre, in denen Jesus sein Brot mit seiner Hände Arbeit verdiente, dabei mit verhaltener Stimme das Gebet und die gläubige Überlieferung seines Volkes rezitierte und sich im Glauben seiner Väter fortbildete, bis er ihn im Geheimnis des Reiches Frucht bringen ließ. Das ist das Mysterium der Geburt und das Geheimnis von Nazareth, erfüllt vom Wohlgeruch der Familie!
In der Tat ist das eine beeindruckende Familienbiographie. Mein Blick fiel - wahrscheinlich autobiographisch bedingt - auf das Jawort des Joseph. Er ist nämlich garnicht der tatsächliche, biologische Vater. Maria ist nach dem Zeugnis der Evangelien durch eine Singularität Mutter geworden. Jesus ist damit eben nicht in einer klassischen, bürgerlichen Familie aufgewachsen, in der das Kind durch einen Zeugungsvorgang seiner Eltern entstand. Also im katholischen Sinne defizitär. Was Jesu Leben ermöglichte, war tatsächlich das Ja zum Leben, ein Geschenk der Liebe, geboren aus Gott, der Beziehung ist und Beziehung schenkt.
Das liebende Paar, das Leben zeugt, ist die katholische Ikone. Sicher?