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Ein Vater hatte zwei Söhne (1)

Gedanken zu Lk 15, 11 - 32

Väter mit zwei Söhnen lesen bestimmte Stellen der Bibel anders. Das möchte ich gleich einmal warnend vorausschicken. 

Tatsächlich sind die Geschichten, die in der Bibel erzählt werden, das unterhaltsame Trockenpulver von Urerfahrungen, bei denen viele Situationen mitgemeint sind. Ich weiß, dass es auch Töchter gibt, die weglaufen. Es gibt Väter und Mütter, die selbst dazu beitragen, dass Kinder besser dran sind, wenn sie gehen. Es braucht beim Lesen  die Kunst, die eigenen Erfahrungen in die erzählten Geschichten einzutragen. 

Trotzdem. Ich gebe zu, es ist etwas anderes, den Text zu lesen, wenn man selbst Vater ist und zwei Söhne hat. 

Natürlich müsste in der Geschichte auch von der Mutter der Söhne erzählt werden. Sie wird nicht erwähnt. 

Und der Blick der Kommentatoren wendet sich meist dem Sohn zu, der sein Glück in der Welt suchte und auf den Vater, der scheinbar nichts besseres zu tun hat, als dem verlorenen Sohn hinterherzuweinen. Der Vater sieht ihn schon von weitem kommen. 

Wie geht es eigentlich dem anderen Sohn? Wie geht es dem Sohn, der vielleicht  auch eigene Träume gehabt hätte? Jener brave Sohn, der seinem Vater hilft, um den Hof am Laufen zu halten? 

Erzählt wird die Geschichte eines Beziehungsabbruchs, den man sich ruhig mal etwas dramatischer vorstellen darf. 

Ich darf mal überspitzen?

Danke!

Also: wir tauschen mal: in meiner fiktiven Geschichte beschließt der ältere Sohn bewusst, dass er  alle Werte seiner Eltern ablehnt. Er wird gewalttätig, hält sich an keine Regeln mehr und wird schließlich von seinem Vater aus der Wohnung geschmissen. 

Ich wähle für meine fiktive Geschichte den älteren Sohn, denn eigentlich erwartet man, dass der ältere den jüngeren Sohn beschützt und den Eltern in besonderer Weise hilft. Dagegen geht in der biblischen Geschichte der jüngere Sohn. Das mag ärgerlich sein, aber immerhin bleibt ja der Erstgeborene. Das ist ja im kulturellen Kontext, in dem Jesus spricht, durchaus wichtig.

 

Die biblische Geschichte erzählt uns nichts von den Tränen, es erzählt uns nichts davon, wie sich die Eltern fühlten, die plötzlich vor der Aufgabe standen, vor der Polizei auszusagen, um Opfer zu schützen. Wir erfahren nichts von den Vorhaltungen des älteren Sohnes, der nicht verstand, wieso seine Eltern ihn gegen seinen Willen aus dem Sumpf ziehen wollten, den er aus freiem Willen betreten hatte. Letztlich können sie es nicht. Vielleicht ist es daher klug und Kräfte schonend, dass der biblische Vater zwar wartet, aber nicht hinterherläuft. Was wäre gewonnen gewesen, wenn er versucht hätte, den Sohn am Bahnhof abzufangen? 

Aber wie war das in der anderen Geschichte? Da hat der Hirte doch 99 Schafe zurückgelassen, um ein einzelnes zu suchen, dass ausgebüchst war? Man muss tun, wozu die Liebe drängt? Vielleicht hat ja die Vernunft beim biblischen Vater einfach über das Herz  gesiegt? Es gibt auch eine liebende Verantwortung, die nötig macht, zu bleiben.  

Wir lesen nichts von den Tränen des Bruders, der nun zu Hause Einzelkind war, der seinen Bruder liebte und ihn vermisste. Wie soll der Sohn daheim damit umgehen, dass der Bruder nicht einfach "im Nebel" ist, sondern Straftäter, der die Folgen der eigenen Schuld nicht tragen will.

Und wo ist die Mutter? Wollen wir die biblische Geschichte dramatisch überhöhen, müssten wir davon erzählen, wie sie nächtelang wach lag und auf ihr Handy blickte. Sie träumte davon, aus dem Albtraum aufzuwachen und Frieden zu finden. Kann man eigentlich sein Kind gleichzeitig lieben und hassen? Hassen dafür, dass es die Liebe der Mutter nicht erkennt? 

Wenn ihr nur die liebt, die Euch lieben, welchen Dank erwartet  ihr dafür? (Lk 6,32) 

Man kann nicht behaupten, dass die christliche Botschaft leicht umsetzbar wäre. Was ist Liebe? Alles übersehen? Den anderen ins Unglück laufen lassen? Auf eine Anzeige verzichten, weil man den eigenen Sohn nicht vor Gericht bringen will? 

Der Vater also wartet. Und er kann den Sohn nicht einfach zu Hause reinlassen. Weil am Hof auch das Opfer lebt. 

In der biblischen Geschichte gibt es einen Sohn, der in die Welt hinauszieht, sein Glück sucht, im Stall landet, alles verloren hat und dann zurückkehrt. Der Sohn, der zu Hause sitzt, schüttelt verständnislos den Kopf. Und wo ist die Mutter?

Wir könnten auch davon erzählen, was zu Hause geschah, während der verlorene Sohn in der Welt Fotos auf Instagram und lustige Filme auf Tiktok machte. Vielleicht wollte der Vater nicht, dass der andere Sohn allein bleiben musste. Vielleicht fand sich stattdessen eine Studentin, die das Zimmer übernahm und die einfach da war, wenn sie gebraucht wurde. Vielleicht ist dem Sohn das Erbe längst genommen und jemandem zugesprochen, der würdiger mit dem Geschenk umgeht (Mt 21,43)

Was für ein Thriller! Seltsam, welche fiktiven Gedanken ein biblischer Text auslösen kann... ich glaube, der Text wird mich noch etwas beschäftigen.