Weihnachtsgruß 2021
Leipzig 2021
Ich sitze in der Schule. Viele Kinder arbeiten an Tischen. Vor mir Blätter mit Matheaufgaben. Ich sehe einen Lehrer an der Tür. "Kann ich ein Blatt haben?" Die Lehrerin - ich weiß nicht, ob männlich oder weiblich - kommt zu mir: Schön, dass Du auch wieder mitmachen möchtest. Das wurde ja auch Zeit. Die lehrende Person ist zufrieden. Das Mädchen neben mir kommt mir bekannt vor. Sie trägt ein weinrotes Kleid und braune Locken. Sie will mir helfen und beginnt, zu erklären, was die Klasse gerade macht. Der Tisch fühlt sich plötzlich weich und kuschlig an. Ich wache auf und streiche die Decke glatt. Schade. Ich wäre gerne im Traum geblieben. Ob das Mädchen mich vermisst. Oder ist sie schon gewohnt, dass ich plötzlich weg bin?
Manchmal bricht die gewohnte Welt zusammen. Das kann zum Grübeln führen. Wenn das Kind nicht gerade Hunger hat und Frühstück braucht. Manchmal hat man Zeit, sich neu zu sortieren. Manche gehen in die Wüste, manche Wüste kommt einfach ungefragt. Manche wachsen in einer Pandemie, manchem wächst die Büchse der Pandora über den Kopf, die sie geöffnet sehen.
Es gibt genug Texte. Zu Weihnachten gibt es noch mehr Texte.
Hüte dich, mein Sohn, vor andern mehr; denn viel Büchermachens ist kein Ende, und viel studieren macht den Leib müde. (Prediger12,12)
Jeder kann heute seine Gedanken in die Welt hinausschreien. Wir hören mehr und verstehen weniger. Vielleicht hat Jesus geahnt, dass seine Botschaft nicht wirklich besser verstanden wird, wenn er sie aufschreibt. So spiegelt sich seine Erfahrung in den Schriften seiner Zuhörer, die selbst eigene Erfahrung in die gehörten Worte und Taten eintragen.
Tod und Auferstehung waren die zentralen Erinnerungsstücke, die zuerst schriftlich überliefert wurden. Wer war dieser Jesus, der für seine Botschaft am Kreuz gestorben ist und von dem ich behaupte, er lebe? Vor der antiken Hafenstadt Cäsarea wurde in letzter Zeit im Mittelmeer ein Schiff aus dem 3. Jahrhundert gefunden. An Bord auch ein Ring mit dem Bild eines Hirten mit Schaf. Jesus, der gute Hirte. So wurde er in den ersten Jahrhunderten gerne dargestellt.
Geburt und Jugend Jesu sind erst relativ spät Stoff für die Reflektion der Theologen. Seine Eltern: Maria und Joseph... doch Joseph ist nicht der leibliche Vater. Rasch betonen die Theologen, dass es keinen anderen Mann gibt. Maria selbst zeigt sich irritiert, dass sie schwanger ist. Im gesellschaftlichen Kontext der Zeit wäre sie nicht mit der Geschichte durchgekommen, dass sie ohne Mann schwanger geworden sei. Und so ist Joseph zumindest nach außen hin wohl als leiblicher Vater aufgetreten. Nicht jedes Geheimnis ist in jeder Situation für die Öffentlichkeit bestimmt.
Leipzig 2004
Im Morgenrot kommen drei Frauen. In langem weinrotem Ballkleid. Sie setzen sich an die Seiten eines dreieckigen Tisches aus massivem Buchenholz unter einer Linde. Stehend schenke ich ihnen Tee ein. Eine trägt goldenes langes Haar. Eine hat braune Locken. Eine schwarzes, kurzes Haar. Ernst blicken sie mich an:
"Ernst-Ulrich. Du wirst Vater." Ich lache. Sicher nicht!
"Diese Generation erlebt Wunder, die Menschen über Jahrtausende erträumten. Ein kleines Gerät öffnet Dir das Wissen der Welt. Du redest in Sekunden mit Menschen auf der ganzen Welt. Du reist an einem Tag 500 Kilometer. Und ausgerechnet Du Theologe weigerst Dich, an Wunder zu glauben?"
Die Frau mit braunen Locken steht auf. Sie nimmt meine Hand und führt mich zum Feld:
"Grabe diese Sonnenblume aus und pflanze sie in Deinen Garten."
Ich will die schöne, große nehmen. Es scheint mir leichter, sie wieder zum Blühen zu bringen. Die Frau schüttelt den Kopf: "Nimm die kleine Blume." Zweifelnd sehe ich sie an. Stumm treten die anderen Frauen hinter sie:
"Du hast gehört. Nun geh."
Ich erwache.
Jesus, der nach Bibel und Tradition seine Existenz einer Singularität verdankt, wuchs bei Maria auf. Joseph war nicht der leibliche Vater. Deshalb hatte er selbst zuerst einmal den Impuls, sich in Stille zu trennen. Und doch erlebte Jesus hier Schutz und Geborgenheit. Die Szene des 12jährigen im Tempel zeigt aber dann, dass Jesus bewusst war, dass er noch eine andere Wurzel hatte:
Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört? (Lk 2,49)
Drei Tage hatten seine Eltern ihn mit Schmerzen gesucht. Doch Jesus hatte bereits begonnen, seinen eigenen Weg zu gehen.
Das war schmerzhaft. Aber zumindest begegnet hier ein Heranwachsender mit klarem Ziel. Es gibt andere Jugendlichen, die zwar spüren, dass sie an einen anderen Ort müssen, aber innerlich dabei zerrissen sind. Bei Adoptivkindern begegnet dieser Zwiespalt oftmals besonders intensiv. Man lebt - hoffentlich - in der Geborgenheit einer Adoptivfamilie, spürt aber die Wunde der abgetrennten Wurzel, und zerstört im Wahn die tragende Wurzel, weil zu viele eher an Gene und Blut als an Liebe glauben.
Die Ehe markiert in katholischem Verständnis den Beginn eines Weges. In geschütztem Rahmen soll das Kind gezeugt, geboren und in die Welt hineingeführt werden. Das Bild ist nur dann heilsam, wenn alle Zwischenschritte von Liebe begleitet werden. Nun sind wir aber Menschen. Wir sind nicht immer liebevoll.
"Es ist nicht leicht, in den Himmel zu steigen, wenn die Füße schmerzen.", sagte einst eine Freundin im Studium. Es ist manchmal aus Liebe nötig, andere Wege zu gehen. Wege, die der Menge unverständlich bleiben.
Seine Wurzeln kennen ist wichtig. Zu den Wurzeln gehören alle, die den Weg von Zeugung bis zur Pubertät begleiten. Zu den Wurzeln gehören Menschen der Vergangenheit, die das Leben unserer Vorfahren prägten und ermöglichten. Es lohnt sich, den Stammbaum Jesu zu betrachten. Da finden sich nicht nur Vorbilder, sondern auch unerwartete Randfiguren mit schlechtem Ruf. Manche Wurzeln tragen langfristig, auch wenn der Jugendliche rebelliert. Zu den tragenden Wurzeln können die leiblichen Eltern gehören. Es kann aber auch andere Wurzeln geben, die in späteren Jahren tieferen Halt geben. Wie immer Kindheit und Jugend waren: irgendwann ist es am Menschen selbst, zu entscheiden, welchen Weg er wählt.
Manchmal reden Engel im Traum. Manchmal treffen sie uns mitten im Alltag. Manchmal begleiten sie uns ein Stück des Weges. Mitten in die Brüche unseres Lebens hinein. Manchmal führen Engel dazu, dass wir anderen aus Liebe Wurzeln schenken.
Jetzt sind die Beziehungen, die in unser Herz geschrieben sind, rätselhafte Umrisse im Spiegel. Einst treten wir ein in die Zeitenstille der Ewigkeit, erkennend, erkannt, verstehend. Am Ende siegt die Liebe.
Jauchzet! Frohlocket!
Kommentar schreiben