Aschermittwochsgedanken 2022
Du aber geh in Deine Kammer!
Gerne. Ich ziehe die Decke über den Kopf.
Schließ die Tür zu!
Oh ja. Ich lass diese Welt nicht herein. Das alles überfordert mich. Immer neue Bilder und Nachrichten von Gewalt.
Dann bete zu Deinem Vater, der im Verborgenem ist.
Mein Vater ist tot
Dein Vater lebt. Deine Frau lebt. Und ich bin der Lebendige. Und gerade Du weißt das.
Ja, aber erklär das mal der Welt. Die möchten, dass Du endlich reinschlägst.
Ja, das wollen die Menschen immer. Das wollten auch meine Jünger.
Und Du?
Ich gebe Dir ein neues Herz.
Am Donnerstag, 24. Februar 2022 wache ich im Riesengebirge mit der Nachricht auf, dass in Europa Krieg ist. Mein Blick aus dem Fenster geht zu einer Kirche. Hier ging mein Vaters als Kind sonntags in den Gottesdienst.
Ein Kind mit Schulranzen geht vorbei an einem Denkmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs. Die Tafeln wurden erneuert.
Könnte das Kind durch die Zeit zurück in das Jahr 1940 reisen, würde es wohl die Menschen nicht verstehen. Damals wurde hier deutsch gesprochen, heute tschechisch. Dazwischen liegt der Schrecken vieler Kriege.
Kinder leiden, Kinder verlieren ihre Heimat. Wieder und wieder.
Der Geburtsort meines Vaters heißt auf deutsch Marschendorf. Heute heißt er Horni Marsov.
Warum bist Du hier?
Weil der Geist mich hierher führte?
Ok. Du Theologe. Und warum führte Dich der Geist hierher?
Ich will begreifen, was mich prägte.
Na ja. Du willst wissen, was Deine Vorfahren prägte. Willkommen im Gebirge.
Warum mussten meine Eltern ihre Heimat verlassen?
Du kennst doch die Geschichte der Entfremdung der Menschen über viele Generationen.
Warum das alles? Warum Leid und Hass? Warum jetzt schon wieder in der Ukraine?
Warum weinst Du?
Ich bin ohnmächtig.
Am Montag 21. Februar 2022 erreiche ich eine kleine Straße in Trautenau/Trutnov. Durch Recherchen im tschechischen Netz bin ich auf ein Denkmal aufmerksam geworden, dass durch eine lokale Initiative restauriert wurde. Das Denkmal trägt auf der Rückseite eine Widmung aus dem 19. Jahrhundert von Kath. Kneitschel.
Bereits letzte Woche besuchte ich eine Ausstellung in Aussig / Usti nad Labem, die sich mit der Geschichte der Deutschen in Böhmen, Mähren und Mährisch-Schlesien befasste.
In einer Zeit, in der Hass und Gewalt scheinbar siegen, gibt mir beides neue Hoffnung. Es gibt in allen Ländern jene Menschen, die nicht aufgeben, neue Brücken zu bauen. Es ist wichtig, diese Menschen zu stärken.
Kehrt um zu mir von ganzem Herzen mit Fasten, Weinen und Klagen!
Wer bist Du?
Du sagtest aber vorhin, dass Du ohnmächtig bist?
Ich bin ohnmächtig, wo Menschen die Liebe missachten. Und doch ist die Liebe stärker als der Tod. Ich bin ohnmächtig, weil die Menschen Krieg mehr lieben als den Frieden.
Zu Dir umkehren heißt also sich der Schwester zuwenden?
Mehr als das.
Was denn noch?
Du kannst hier in Horni Marsov stehen, weil der Wille zur Versöhnung stärker war als Hass und Gewalt. Und: der Hass wurde nicht an die nächste Generation weitergegeben.
Es wurde nach vorne gesehen. Meine Eltern haben uns eine neue Zukunft aufgebaut.
Hängt Euer Herz nicht an Vergängliches.
Wasser rauscht unter einer Brücke. Es ist die Aupa. Ich schließe die Augen.
Seit Jahrtausenden fließt hier Wasser. Oft trat es über die Ufer. Dabei vernichtete es auch einst im 19. Jahrhundert das Archiv des Ortes. Die Kirchbücher gibt es noch.
Nicht weit von hier vergrub mein Vater 1946 seine Modelleisenbahn bevor er seine Heimat verlassen musste.
Über diesen Fluß ging er zur Schule und zur Kirche. Hier blickte er noch ein letztes Mal zurück.
Es war eine Zeit der Gewalt und Zerstörung. Der Hass auf Deutsche entlud sich nach dem Zweiten Weltkrieg unterschiedslos gegen alle, auch gegen Kinder.
Und auch wenn innerhalb der Europäischen Union nun Frieden ist, gab es doch hier wie auch weltweit keinen Tag, an dem nicht irgendwo eine Mutter um ihr Kind weinen musste.
Warum beschäftigt Dich die Ukraine so sehr, dass Du stundenlang Nachrichten guckst?
Da leiden viele Menschen direkt vor unserer Haustür.
Nicht nur da. Die ganze Welt stöhnt in Schmerzen.
Ich weiß. Ich habe ja Kontakt zu Menschen in vielen Krisengebieten. Und ich weiß um die Not vieler mitten unter uns. Und auch in der Ukraine selbst leiden Menschen schon seit vielen Jahren.
Also. Warum?
Ich habe Angst, dass es hier, wo ich lebe, wieder Krieg gibt. Ich habe Angst um die Menschen, die in mein Herz geschrieben sind.
Fürchte Dich nicht. Die Gestalt der Welt vergeht. Selbst die Schneekoppe bleibt nicht ewig. Staub ist alles. Auch der Mächtige stirbt. Lass alles los.
Menschen benennen Orte, um sie sich vertraut zu machen. Das Gebirge, in dem mein Vater aufwuchs, kannte er unter seinem deutschen Namen Riesengebirge. Sein tschechischer Name ist Krkonose. Auf polnisch heißt es Karkonosze. Seine englische Bezeichnung ist Giant Mountain.
Einen Ort zu benennen, schafft Verbindung. Spaltung entsteht, wenn ich anderen das Recht abspreche, den Ort mitzugestalten, obwohl die auch mit dem Herzen an diesem Ort hängen.
Loslassen bedeutet, anderen Raum zu lassen, die Dinge, die in meiner Verantwortung stehen, mitzugestalten. Naturräume, Städte, Häuser, Beziehungen.
Die Zeit von Aschermittwoch ist Trainingszeit, um Loslassen neu einzuüben.
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