Ich habe ja nun Philosophie, Geschichte und vor allem auch Theologie studiert mit heißem Bemühen und stehe nun am Grab eines Studienabbrechers der Theologie, der auf seine Weise ebenso frei und unabhängig in seinem Denken war wie ich. Wir beide kommen von der Theologie und von den Christen nicht los. Freilich bleibe ich bei der Prämisse, dass am Beginn und Ende eine göttliche Gemeinschaft steht und nicht etwa eine Leerstelle. Manchmal prägen uns gerade die Menschen am meisten, die gedanklich besonders weit weg scheinen.
Meine Theologie ist tiefer und freier geworden in und um Leipzig, weil Glaube hier heute nicht selbstverständlich ist. Und Nietzsche hat seinen Anteil daran. Willkommen in Röcken!
99 Jahre nach dem Tod von Nietzsche stehe ich am Grab des ungewöhnlichen Sohnes eines Pastors. Ich habe kurz zuvor in Mainz begonnen, eine Doktorarbeit in Theologie zu schreiben. Nietzsche hat nichts mit dem Thema zu tun: "Hoffnungszeichen ö?"
In meiner Arbeit geht es um gemeinsame Lieder der evangelischen und katholischen Kirche im deutschsprachigen Raum.
Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum, meldet sich Nietzsche in meinem Hinterkopf.
Sein Grab liegt am Friedhof der evangelischen Gemeinde. Er wurde neben seinem Vater beerdigt. Der Mann, der als antichristlich gilt, wurde unter dem Klang der Glocken, beigesetzt. Der amtierende Pastor ließ sich entschuldigen.
War Nietzsche selbstverliebt? Zwischen 1858 und 1868 entstehen neun autobiographische Skizzen. Ich denke nicht. Er sah sein Leben als ein Beispiel für andere, doch er schrieb von sich in kritischer Distanz. Er schreibt von sich, um zum Dichter seines Weges in der Welt zu werden.
Nietzsche schreibt, um in der flüchtigen Zeit Erinnerungen zu hinterlassen. Er schreibt für seine Leser und zugleich für das zukünftige Ich, das die eigenen Texte aus zeitlicher Distanz neu liest.
Auch wenn der Augenblick dunkel ist, hofft er auf eine spätere Bedeutung.
Das sind Gedanken, die mir nicht fremd sind. Freilich komme ich zu anderen Konsequenzen.
In Röcken liegt Nietzsche am Ort seiner ersten Jahre begraben. Mit 5 Jahren verliert der kleine Friedrich seinen Vater. Er zieht nach Naumburg. Sein Vater war Pastor in dem kleinen Ort. Die kleine Kirche prägte seine ersten Jahre. Er folgt zunächst dem Wunsch seiner Mutter und studiert in Bonn Theologie. Doch bereits nach dem ersten Semester hört er auf. 1865 besucht er seine Mutter und weigert sich demonstrativ, zum Abendmahl zu gehen.
Seiner Schwester schreibt Friedrich, warum er sich von der Theologie abwendet: es sei bequemer, an das zu glauben, was einen tröstet als nach der Wahrheit zu suchen.
Nietzsche will nicht den leichten Weg gehen. Das war auch mein Gedanke, als ich 1995 in Wien entschied, das Priesterseminar zu verlassen.
"Gott ist tot!" Dieser Satz hat sich ins Bewusstsein gebrannt. Nietzsche selbst scheint vor dem Satz zu erschrecken.
"Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht?"
Nietzsche wird von unterschiedlichen Menschen benutzt. Er ist ein ambivalenter Denker, der sich Kategorien entzieht. Nietzsche erkannte, dass die Leerstelle, die Gottes Tod hinterlässt, durch andere "Götter" ersetzt werden wird.
Nach 1945 wurde Nietzsche selbst als Vordenker der faschistischen Unrechtsstaaten gesehen. Tatsächlich war er wohl eher Seismograph eines kulturgeschichtlichen Erdbebens. Und sein Grab ist Begegnungsort der Unangepassten, wie Stefanie Jung von Nietzsche-Verein dem Deutschlandfunk erzählte:
Sein Grab befindet sich direkt neben der Kirche. Eine schlichte Marmorplatte mit knapper Inschrift: „Friedrich Nietzsche, geboren 15. Oktober 1844. Gestorben 25. August 1900“. Davor eine Holzbank. Jedes Jahr kommen zwei ältere Damen zu seinem Geburtstag, trinken hier Sekt und stellen auch ein Gläschen für den Philosophen aufs Grab. Zwei andere Frauen, erinnert sich Stefanie Jung, sind extra aus der Volksrepublik China angereist:
„Zwei Chinesinnen, die hier ganz glücklich Hand in Hand standen, sie sagten, bei uns können wir uns so nicht zeigen. Und Nietzsche gibt uns aber dann tatsächlich auch die Kraft, das durchzuhalten. Also, er hebelt natürlich so Zwänge auf.“
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