Das Unsichtbare sehen

Brecht auf ohne Landkarte – und wisst, dass Gott unterwegs zu finden ist, und nicht erst am Ziel. Versucht nicht, ihn nach Originalrezepten zu finden, sondern lasst euch von ihm finden in der Armut eines banalen Lebens.

Madeleine Delbrêl

Friedhof Gohlis. Grab Martina.
Friedhof Gohlis. Grab Martina.

Notizen Zum Credo 7

Nicht die Dinge beunruhigen uns, sondern die Deutung der Dinge. Das erkannte einst Epiktet. 

Natürlich haben ich im Lauf des Lebens viele Erfahrungen gemacht. Ich vertraute und wurde enttäuscht. Ich teile die Welt ein. Es gibt Menschen, die ich liebe und andere, die ich meide. 

Schmerzhaft musste ich Menschen loslassen, die ich liebte. 

Träume zerbrachen an der sichtbaren Realität. 

Ich deute das Verhalten anderer. Doch eigentlich verstehe ich oft genug mich selbst nicht. Jeder zeigt sich in bestimmter Weise in der Welt. 

Ich war in entscheidenden Momenten blind für das, was andere gebraucht hätten. Ich verletzte mit einem Wort oder einem Blick. 

Es gibt eine sichtbare Oberfläche und einen aufgewühlten Ozean. 

Die Änderung von Strukturen ändert nicht den Menschen. 

Die Änderung von Strukturen schafft nur neue Bilder. 

Heil bringt nur der Blick hinter die sichtbaren Strukturen. 

Das Parlament der Stimmen in uns bildet ein brüchiges Ich. 

In der Begegnung mit den Vielen formt sich ein Bewusstsein für das Ich. Wir reisen durch Raum und Zeit. Das Sichtbare ist wertvoll und doch vergänglich. Wir wollen nicht loslassen, doch das Leben ist nicht fair. 

Autobahnkirche Exter
Autobahnkirche Exter

Ich verlasse die Wohnung und gehe durch Leipzig. Ich sehe Menschen, Tiere, Pflanzen, Gebäude. Ich spüre Wind. Es ist mir kalt. 

Ich sehe. Ich höre. 

Am Friedhof grabe ich meine Hand in die kalte Erde. Hier werde ich liegen, wenn das Ich verstummt. 


Andere verlassen ihre Wohnung.

Andere haben keine Wohnung. 

Ich sehe andere aus meiner Perspektive. Ich deute Wirklichkeit. Manchmal bilde ich mir ein, die Welt zu verstehen. Wenn ich Macht hätte, wüsste ich, was zu tun wäre. Folgt mir! Die sozialen Medien leben davon, dass jeder eine Meinung hat. Und jeder hält seine Meinung für so wichtig, dass sie geschrieben werden muss. Auch ich schreibe. Du liest! Danke! Behalte, was hilft und vergiss,  was nicht hilft. Schreibe mir, wenn es Dich drängt, zu widersprechen. Jeder braucht den kritischen Blick des Du. Kritik ist unangenehm. Aber wir wachsen in der Begegnung.

Vielleicht trifft mich die Kritik. Vielleicht reagiere ich falsch. Vielleicht schweige ich aus Angst, selbst zu verletzen. 


Tatsächlich fehlen uns ständig Informationen. Wir wissen nicht wirklich, warum der andere so handelt. Wir vertrauen oder misstrauen. 

Wir streben Macht an, um anderen zu helfen. Wir streben Macht an, um unsere eigene Ohnmacht zu übertönen. Wir wollen über unseren Tod hinaus sichtbar bleiben. In Worten. In eigenen Kindern.

Illusion.

Ich bin Windhauch. [Koh 1,2]

Man wird mich vergessen. 

Man wird auch die Könige und Diktatoren vergessen.

Man wird die machtvollen Reiche und Nationen vergessen. Wofür habt ihr gekämpft?

Die Erde verglüht in der Sonne. 

Sternenstaub sind wir. Sternenstaub werden wir.  

Ich erschrecke vor dem, was ich hier gerade geschrieben habe. Was geht in mir vor? Was wird der Text im Du auslösen? Werde ich den glimmenden Docht auslöschen? [Jes 42, 1-4] 

Sollte ich nicht besser den Text schnell löschen?

Wenn das Handy Dich dazu verführt, andere mit Worten zu verletzen, werfe es aus dem Fenster.


Ich höre in die Stille. Der Text bleibt. 


Unsichtbar ist nicht nur, was im Kopf anderer Menschen passiert. 

Unsichtbar ist auch, was in unserem Gehirn passiert. Das Ich entgleitet unserer Kontrolle. 

Vieles geschieht unbewusst. 

Am Ende müssen wir das Ich loslassen. 


„Sagen Sie ihm, dass dies für mich das Ende ist, aber auch der Anfang. Mit ihm glaube ich an unsere weltumspannende christliche Bruderschaft, die sich über allen nationalen Hass erhebt, und: dass unser Sieg gewiss ist.“

Diese letzte Botschaft richtete Bonhoeffer an George Bell. Bischof, Ökumeniker, aber vor allem Freund.

Entscheidende Gedanken wachsen in der Ohnmacht.

Die Strukturen und Bilder zerbrechen. Die eigenen Pläne zerschellen an den Klippen der harten Realität. 

Zu viele zerbrechen am Schmerz und an der Ohnmacht. 

Warum? 

Am Grunde meiner Ohnmacht wimmert ein verletztes Du.


Katholische Kirche Bad Nenndorf
Katholische Kirche Bad Nenndorf

Den Blick auf das absolute Du richten. Das bedeutet für mich, bewusst zu erkennen, dass ich mehr Fragen habe als Antworten.

Den Blick auf das absolute Du richten. Das bedeutet,dass jede menschliche Macht vergeht. Ich brauche Gott nicht bei den Reichen und Mächtigen suchen. Er ist dort nicht zu finden. Oder besser: Reichtum und Macht verstellen zu oft den Blick auf den Ursprung und das Ziel. 

Gottes Weisheit ist nicht im Palast. 

Sie ist im Stall. Irritierend.

Wir sollten nicht denen folgen, denen alle folgen. Wir sollten denen genau zuhören, die unser Herz zum Klingen bringen. 

Wir brauchen die Gemeinschaft der Menschen, die uns von den Spuren des absoluten Du erzählen.


Höre nicht auf die Worte, höre darauf, was die Worte in Dir zum Klingen bringen. 

Wir sollten nie aufhören, uns selbst gut zuzuhören. In uns ist eine Stimme, die uns begleitet. 

Prüfe alles, behalte das, was Dir guttut. Den Rest vergiss. 

Urteilt nicht. Es fehlen zu viele Informationen.

Unvermeidbar ist es,  zu entscheiden. Der Mensch tut mir gut. Den anderen Menschen meide ich. 

Manche Beziehung muss ich lösen, um mir selbst treu zu bleiben. 

Tu ich Dir gut? Tust Du mir gut?

Es gibt eine bleibende Verantwortung für die Menschen, die Teil unserer Geschichte geworden sind. Lass los, aber werfe niemanden weg. 

Ich kann Dich nicht mehr lieben, aber ich hoffe, dass andere Dich lieben. Ich werde anderen helfen, Dich zu lieben, wenn ich kann. Schmerzhafte Ohnmacht. 

Ich gehe mit Dir einen gemeinsamen Weg. Wir werden anderen den Weg ins Leben ebnen. Du hast bleibende Verantwortung für das Leben, das durch Dich in diese brüchige Welt kam. Manches Kind zerbricht an den Brüchen der Eltern. Lass los, was Dich am Weg zum ewigen Du belastet. Lass mich los, wenn meine Worte und Taten Dich belasten. Neue Zeitreise. Offene Welt. 


Wir sehen das Sichtbare. 

Das Unsichtbare ist das Wesentliche. 

Das Herz urteilt anders. 


Ein Mensch sieht, was vor Augen ist, der Herr aber sieht das Herz an. [1 Sam 16,7]


Der Vers steht im Kontext der Berufung des jungen David. Er ist sehr jung und unscheinbar. Seine Brüder werden als stärker und schöner beschrieben. 


David wird zum König gesalbt. Aber es gibt da noch einen herrschenden König: Saul sei verworfen, erfahren wir. 

Saul kämpft gegen David. In einer Höhle hätte David die Gelegenheit, den verworfenen König zu töten. 

Doch David sieht nicht den Feind, sondern sieht hinter die Fassade: 


Das lasse der HERR ferne von mir sein, dass ich das tun sollte und meine Hand legen an meinen Herrn, den Gesalbten des HERRN; denn er ist der Gesalbte des HERRN. [1 Sam 24,7]

Michaeliskirche. Leipzig.
Michaeliskirche. Leipzig.

Paulus schreibt davon, dass wir einen Schatz in zerbrechlichen Gefäßen tragen. [2 Kor 4, 7-18].

Der Völkerapostel betrachtet seine eigene Schwäche und Ohnmacht als Teil seiner Glaubwürdigkeit. 

Paulus überzeugt nicht durch rhetorisches Geschick oder durch machtvolles Auftreten. 

Es geht ihm darum, Herzen zu berühren statt Menschen zu manipulieren. Offen kommuniziert er die eigenen Ängste und Unsicherheiten. 

Paulus teilt das Schicksal der großen Propheten. 

Im eigenen Bewusstsein fühlt er sich schwach und krank, doch eine innere Kraft, die sich seiner Kontrolle entzieht, drängt ihn. 

Paulus ist Instrument. Seine unbestreitbaren Fähigkeiten sind nur sichtbare Oberfläche einer unsichbaren Melodie, die jeder in sich hören kann. 

Ich weiß nicht mehr als Du. 

Ich erzähle von meiner Spurensuche. Was hast Du entdeckt? 

Wenn Jesus vom Sichtbaren und vom Unsichtbaren redet, zerbrechen menschliche Bilder und Vorstellungen. 


Für einen Messias und Sohn Gottes ist das Auftreten Jesu enttäuschend. Der König taucht unerkannt in der Menge unter und entzieht sich allen Versuchen, ihn mit weltlicher Macht zu locken.  Bereits als Jesus in der Wüste war, biss sich der Versucher die Zähne aus. Er hätte nur den Teufel anbeten müssen, dann hätte er alle Reiche der Welt bekommen. 

Jesus zeigt wenig Interesse daran, als göttliches Kind eindeutig identifiziert zu werden. Bei der Hochzeit zu Kana muss er von seiner Mutter zu einem Wunder gedrängt werden. Den Geheilten verbot er streng, zu erzählen, wer sie geheilt hat. Doch vielleicht sind wir auch blind. Jesus kam, um einen gordischen Knoten zu lösen, der sich über Jahrtausende gebildet hatte. Er wollte den glimmenden Docht nicht löschen. Er wollte nicht das Unkraut so jäten, dass dabei der gute Weizen verloren geht. Sein Reich ist nicht von dieser Welt. Und diese Welt vergeht. Mit ihr zerfallen die Reichen und Mächtigen zu Staub. 

Durch alle sichtbare und greifbare Struktur blickt der Gottsucher auf die Quelle und das Ziel. 

Institutionen und Strukturen verschwinden. Macht vergeht. 

Jesus stellt das Kind in die Mitte und beantwortet damit die Frage nach weltlicher Macht auf seine Weise.

Bei Euch soll es nicht so sein, dass die Mächtigen die Richtung vorgeben. [Mt 20,26]

Bei Euch soll der Mächtige in die Ohnmacht gehen. 

Der König dient tatsächlich. Er geht tatsächlich in die Ohnmacht. 

Wer in der Kirche Macht beansprucht, darf nur diese eine Richtung vorgeben und selbst vorleben: in die eigene Ohnmacht und in die Ermächtigung des Ohnmächtigen. Berufung ruft den Berufenen in die Ohnmacht. Ist das in der Kirche sichtbar?


Die unsichtbare Macht wird dort greifbar, wo wir uns aller Versuchung zur weltlichen Macht entziehen. 

Ich lasse Dich los. Ich lasse mich los.


Die unsichtbare Macht wird in der eigenen Ohnmacht sichtbar: 

Dieser Mensch war Gottes Sohn!

Katholisches Krankenhaus Dresden. Kapelle
Katholisches Krankenhaus Dresden. Kapelle

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