Edith Stein
Notizen zum Credo 12
Ich schreibe immer wieder mal Tagebuch. Manchmal lese ich Texte von mir, die vor vielen Jahrzehnten geschrieben wurden.
1992 reiste ich einem Monat lang durch Deutschland. Kurz nach dem Abitur wollte ich vor allem die Neuen Bundesländer kennenlernen. Erst Jahre später führte mich die Liebe nach Leipzig zurück. Wenn ich heute meine alten Tagebücher lese, wundere ich mich, warum ich nicht sofort im Osten blieb. Gleichzeitig weiß ich natürlich, dass es anders gewesen wäre.
Es musste wohl so sein.
Erfahrungen verändern den Blick. Mich prägte der Weg von Regensburg über Wien, Würzburg, Genf und Mainz nach Leipzig.
Wusstest Du nicht, Ernst-Ulrich, dass Du nur so Deinen Weg nach Leipzig finden konntest?
Der verschlungene Weg bereitete mich vor. Er machte mich zu dem Menschen, der ich jetzt bin.
Geschichte prägt.
Ich kann und muss mich am Weg beraten lassen. Doch ich muss am Ende unabhängig entscheiden, welchen Weg ich gehe und wo Gott mich in die Ohnmacht ruft.
Man liest die eigenen Texte nach Jahren anders und wundert sich über das, was man plötzlich in ihnen entdeckt.
Man versteht einen Menschen besser, wenn man weiß, welche Traditionen ihn prägten und was er daraus geformt hat.
Nach dem Tod Jesu blicken seine Jünger anders auf die Erfahrungen mit Jesus. Sie blicken aber auch anders auf die Texte der eigenen jüdischen Überlieferung. Alle Texte schienen nun seine Spuren zu tragen. Mehr noch: in der ganzen Geschichte war nun Jesus sichtbar und spürbar.
Besonders die Psalmen wurden nun anders gelesen. Als Jude kannte und betete Jesus diese Gebete. Doch es war plötzlich mehr: die Psalmen schienen von ihm zu sprechen.
Zugleich sollten Christen nie vergessen, dass die Psalmen jüdisch bleiben. Wir sind Gast einer Tradition, der fromme Juden bis heute treu geblieben sind.
Der evangelische Theologe Bernd Janowski beschreibt die Gesamtkomposition der Psalmen als einen Erfahrungsweg von der Klage zum Lob. Die ersten Christen sahen, dass Jesus auf die Widrigkeiten des Lebens so reagierte, wie das in den Psalmen vorgezeichnet ist. Die eigene Erfahrung öffnet die Augen für eine neue Perspektive. Ohne die eigene Erfahrung bleibt diese Perspektive verschlossen. Die neue Perspektive macht andere Perspektiven nicht ungültig. Wir leben von der Quelle und haben kein Recht, andere von dort zu verdrängen.
Doch das Nachdenken über Jesus ging weiter:
Er ist geboren vor aller Zeit.
Das ist eine Spurensuche nach dem markanten Wesen Jesu in der ganzen Geschichte.
Er ist geboren vor aller Zeit.
Damit überschreitet der Glaube an Jesus Raum und Zeit.
Jesus sprach zu ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ehe Abraham wurde, bin ich. [Joh 8,58]
Das Johannesevangelium lässt Jesus besonders deutlich von seiner eigenen Vorgeschichte erzählen.
Lange Zeit wurde daher vermutet, die Texte seien erst im zweiten Jahrhundert entstanden.
Inzwischen wird eher vermutet, dass das vierte Evangelium zwischen 80 und 100 geschrieben wurde.
Klaus Berger datiert das Werk sogar noch früher.
Die Frühdatierung zwischen 67 und 70 wird mehrheitlich nicht geteilt.
Das Johannesevangelium ist erstaunlich gut informiert über die jüdischen Feste und Bräuche. Er beschreibt mit Detailwissen die Passion Christi.
DieTopographie der Region, in der Jesus lebte, ist sehr korrekt dargestellt.
Sein Griechisch ist stark semitisch-hebräisch geprägt.
Das Evangelium selbst nennt als Autor den Lieblingsjünger Jesu:
Das ist der Jünger, der von diesen Dingen zeugt und der dies geschrieben hat; und wir wissen, dass sein Zeugnis wahr ist. [Joh 21,24]
Irenäus von Lyon [120-202] überliefert, dass Johannes mit dem Lieblingsjünger identisch sei:
Zuletzt gab Johannes, der Jünger des Herrn, der auch an seiner Brust ruhte, selbst das Evangelium heraus, als er sich in Ephesos in der Asia aufhielt (Irenäus, Adversus Haereses III 1,1, zitiert auch bei Eusebius, Historia Ecclesiastica V 8,4)
Sprache und Theologie lassen zugleich vermuten, dass es einen längeren Reflexionsprozess gegeben hat. Man vermutet eine Gemeinde, die in der beginnenden Strukturierung der Gemeinden einen eigenen Weg ging. Dabei berief sie sich mit dem Lieblingsjünger auf einen eigenen Zugang zur Quelle neben den "Säulen der Gemeinde" um Simon Petrus. [Gal 2,9]
Der Johannesprolog sieht Jesus bereits bei der Schöpfung Regie führen. Jesus allein konnte Auskunft über Gott geben, weil er von Gott kam.
Im Anfang war das Wort, / und das Wort war bei Gott, / und das Wort war Gott. Im Anfang war es bei Gott
Alles ist durch das Wort geworden / und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist. [Joh 1,1-3]
Verständlich wird dieser Text erst im Licht der Erfahrung nach Ostern. Die Frauen erzählten davon. Die männlichen Jünger hörten zuerst nicht zu.
Ist das nicht immer wieder die Erfahrung der Berufenen?
Die Geschichte geht weiter. Der Tod hatte nicht das letzte Wort. Dieses singuläre Ereignis öffnet eine neue Perspektive auf Geschichte.
Der spannendste Zeuge der Ereignisse nach Ostern ist Paulus. Nach eigenen Angaben verfolgte er zuerst die junge christliche Gemeinde. Dann aber kam es zu einer unerwarteten Wende.
Als Letztem von allen erschien er auch mir, dem Unerwarteten, der «Missgeburt».
Denn ich bin der geringste von den Aposteln; ich bin nicht wert, Apostel genannt zu werden, weil ich die Kirche Gottes verfolgt habe. [1 Kor 15, 8-9]
Der gebildete Jude ist Pharisäer und scheinbar auch römischer Bürger. Ungewöhnlich.
Paulus kommt unerwartet in den Kreis der Jünger. Konnte man wirklich dem vertrauen, der gerade erst die Kirche verfolgt hatte. War es vielleicht eine Falle? [Apg 9,13]
Doch seine Berufung hat er direkt von Christus. Das macht ihn selbstbewusst - auch gegenüber den anderen Aposteln. In der Apostelgeschichte lassen ihm die Jünger, die Jesus begleitet hatten, den Raum, den er brauchte, um frei seine Talente zu entfalten. Von Petrus liest man kaum noch etwas. Er wirkt ohnmächtig.
Paulus denkt konsequent weiter:
Täglich sehe ich dem Tod ins Auge, so wahr ihr, Brüder, mein Ruhm seid, den ich in Christus Jesus, unserem Herrn, empfangen habe.Was habe ich dann davon, dass ich in Ephesus, wie man so sagt, mit wilden Tieren gekämpft habe? Wenn Tote nicht auferweckt werden, dann lasst uns essen und trinken; denn morgen sind wir tot. [1 Kor 15, 31-32]
Paulus blickt aus eigener Erfahrung auf Christus, deren Jünger er zuerst als Gefahr wahrgenommen hat. Für ihn änderte sich alles. Und doch bleibt er sich treu. Mit viel Energie und Leidenschaft verkündet er, was er nun als richtig erkannt hat. Er kann frei reden. Er verdient sein eigenes Geld und muss niemandem gefallen. Trotzdem ist ihm wichtig, dass die Christen ungeteilt auftreten. Er will keine Nachfolger, er will zu Christus hinführen, der in seinen Reaktionen auf die Ereignisse des Lebens zeigte, dass er mit traumwandlerischer Sicherheit auf das absolute Du vertraute.
Der Sohn kann nichts von sich aus tun, sondern nur, wenn er den Vater etwas tun sieht. Was nämlich der Vater tut, das tut in gleicher Weise der Sohn. [Joh 5,19]
Als Mensch war Jesus in der gleichen Situation wie wir. Die Spuren des absoluten Du sind nicht immer offensichtlich. Und doch war sich Jesus seiner Herkunft vom Du bewusst. Er hatte ein Gespür dafür, wo Gott gerade wirkt. Er sah besser als andere, wo er das Wirken Gottes im Du durch eigenes Handeln verstärken konnte.
Die Sicherheit, mit der Jesus durch das Leben ging, ist eigentlich nur verständlich, wenn Jesus ein besonderes Wissen darüber hatte, dass sein Ursprung im absoluten Du war. Es erleichtert den Weg in der Dunkelheit, wenn man weiß, dass man nicht allein geht.
Jesus wusste um diese Begleitung.
Als Menschen ahnen wir immer wieder, dass wir beschützt und begleitet sind.
An dieser Stelle ahnen wir zudem, warum das Nachdenken über Jesus zu einer unerwarteten Konsequenz führt.
Jesus hat im Herzen eine Erfahrung, die nicht zu seiner menschlichen Natur passt.
Auch richtet der Vater niemand, sondern er hat das Gericht ganz dem Sohn übertragen,
damit alle den Sohn ehren, wie sie den Vater ehren. Wer den Sohn nicht ehrt, ehrt auch den Vater nicht, der ihn gesandt hat. [Joh 5,22-23] |
Das Richten ist eine klassische göttliche Aufgabe. Wir tappen ja sogar im Dunkeln, wenn es darum geht, zu verstehen, was wir selbst tun. Wie sollten wir abschließend darüber urteilen können, was andere machen?
Die Gemeinschaft der Christen tat sich lange Zeit schwer damit, zu verstehen, was es bedeutet, Jesus zu ehren. Sie verstanden ihre eigene Gemeinschaft als Voraussetzung des Heils.
Tatsächlich kann Jesus aber von jedem geehrt werden, der sich dem Du liebevoll zuwendet. Man muss dazu weder Gott noch Jesus kennen. Auch hier gilt wieder: loslassen.
Die Kirche hat eine wichtige Aufgabe, aber es ist nicht ihre Aufgabe, anderen die Tür zum Himmel zuzuschlagen. Christen sollten der Versuchung widerstehen, zu verurteilen.
Die Schlüssel zum Himmel sollen den Ohnmächtigen ermutigen. Die Schlüssel zum Himmel sollten nicht genutzt werden, Menschen Steine in den Weg zu legen.
Ihr verschließt den Menschen das Himmelreich. Ihr selbst geht nicht hinein; aber ihr lasst auch die nicht hinein, die hineingehen wollen. [Mt 23,13]
Außerhalb von dem, wofür Jesus steht, ist kein Heil.
Außerhalb der Zuwendung zum Du ist kein Heil.
Jesus beherrschte die Kunst, sich dem Du zuzuwenden, auf einzigartige Weise.
Jesus wendet sich dem Du zu, um Gott bei der Arbeit im Du zu helfen. Und manchmal wird auch Jesus überrascht.
Beispiel?
Zuerst schien Jesus nicht für die kanaanäische Frau zuständig. Dann aber entdeckte er in ihr einen Glauben, der sein Herz öffnete. [Mt 15,22-28]
Auch diese Geschichte kann zu falschen Konsequenzen führen. Oft genug geschieht es nicht, dass der Geliebte gesund wird. Wir erfahren Begleitung in der Ohnmacht, nicht Schutz vor der Ohnmacht.
Erst im Dialog gelingt es, das Mosaik so zusammenzusetzen, dass die befreiende Botschaft für die Ohnmächtigen leuchtet. Erst im Dialog der Perspektiven verstehen wir wirklich, wohin der Weg führt. Der Ernstfall der Liebe beginnt dort, wo wir den anderen nicht verstehen und glauben, dass der andere vom Weg abgeirrt ist. Vielleicht sind wir in Wahrheit alle am falschen Weg und sehen einfach den Splitter besser als den eigenen Balken. Ich misstraue Menschen, die mit großem Selbstbewusstsein ihren Umgang mit Schuld und Sünde für den einzig richtigen Weg halten. Ich misstraue Menschen, die genau zu wissen glauben, was richtig und falsch ist.
Wir bleiben Blinde, die tastend eine Spur vom absoluten Du entdeckt haben und davon erzählen. Wir brauchen die Gemeinschaft der Suchenden.
Die Idee, Jesus bereits in den Schriften zu entdecken und anzunehmen, dass er vor seinem Leben existierte, führte noch nicht automatisch zum Bruch mit der Synagoge.
Der Messias sollte nach Micha in ferner Vorzeit seinen Ursprung haben:
Aber du, Betlehem-Efrata, / so klein unter den Gauen Judas, aus dir wird mir einer hervorgehen, / der über Israel herrschen soll. Sein Ursprung liegt in ferner Vorzeit, / in längst vergangenen Tagen. [Mi 5,1]
Doch die Erfahrung der Christen führte zu einer Entfremdung mit dramatischen Folgen. Dabei hatte Paulus im Blick, dass die Heiden-Christen nur eingepflanzt sind in die Heilsgeschichte des Volkes, dessen Bund nicht gekündigt wurde.
Paulus warnt noch vor der Überheblichkeit:
Wenn aber einige Zweige herausgebrochen wurden und wenn du als Zweig vom wilden Ölbaum in den edlen Ölbaum eingepfropft wurdest und damit Anteil erhieltest an der Kraft seiner Wurzel, so erhebe dich nicht über die anderen Zweige. Wenn du es aber tust, sollst du wissen: Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich.
[Röm 11,17-18]
Wie oft brachten Christen Leid über andere, weil sie ihre eigene Berufung als Macht über andere deuteten? Gott beruft aber nicht, um andere in die Ohnmacht zu schicken. Er beruft, um den Niedrigen zu erhöhen. Wo Kirche selbst mächtig ist, gilt ihr selbst das Wort:
Gott stürzt die Mächtigen vom Thron.
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