Glaubt ihr, dass ich ihn nicht fühle? Gott kann beides: kräftig brennen und tröstlich kühlen.
Mechthild von Magdeburg
Notizen Zum Credo 11
Die Erfahrungen mit Jesus wurden in einem Mosaik vielschichtiger Texte überliefert. Jeder Evangelist hat seine eigene Perspektive. Hinter den überlieferten Namen der Evangelisten verbergen sich viele Menschen, die in Worten eine Erfahrung beschrieben, die unbeschreiblich war.
Christen erleben, dass diese Erfahrung nicht vergangen ist. Jede Eucharistie durchbricht Raum und Zeit und erinnert daran, dass wir die lebendige Geschichte Jesu auch heute weiterschreiben, wenn wir uns dem Du liebevoll zuwenden. Die Kraft lebt, die Jesus getrieben hat. Manche sind von dieser Kraft erfüllt ohne diese Kraft als göttlich zu benennen.
Zu oft wurden mit den Worten "Gott" und "Jesus" eigene Interessen verfolgt, die vom absoluten Du ablenken.
Der Evangelist Johannes trägt zum Mosaik den Gedanken bei, dass Jesus "der eingeborenen Sohn" ist. Ein Blick auf den griechischen Text ist hier besonders wichtig:
Monogenes bedeutet bei Johannes, dass Jesus in seiner Beziehung zu Gott einzigartig ist.
"Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben" [Joh 3,16]
Die Beziehung zwischen Jesus und dem absoluten Du ist einzigartig. Liebevoll nennt Jesus Gott Abba. Bei der Perikope des 12jährigen im Tempel wird dies besonders schön sichtbar. [Lk 2,41 ff.]
Jesus will bis heute da sein, wo in uns Raum für das absolute Du geschaffen wurde. [Offb 3,20]
Der historische Jesus entzieht sich immer wieder den Erwartungen an ihn. Er geht immer wieder in die Einsamkeit zurück. Im stillen Dialog mit dem absoluten Du findet er die Kraft, sich dem Mitmenschen neu zuzuwenden.
Im Dialog mit der Frau am Jakobsbrunnen erläutert Jesus, dass das absolute Du "im Geist und in der Wahrheit" angebetet werden will. [Joh 4,23]
Ich werde meiner Quelle und meinem Ziel fremd, wenn ich etwas anderes in den Blick nehme als das absolute Du. Gleichzeitig kann ich das absolute Du nicht für meine eigenen Ziele festhalten. Ich muss meine Ziele immer wieder loslassen. Das gilt auch für religiös begründete Ziele. Berufung führt in die Ohnmacht. Gebet stärkt für die Erfahrungen der Ohnmacht, denen wir nicht ausweichen können.
Gott im Geist und in der Wahrheit anbeten bedeutet, aus dieser Mitte sein Leben gestalten:
Adonai ist die Macht, die nicht von außen kommt, sondern aus dem Innersten. Deshalb kann sie eigentlich nicht gefahrlos ignoriert werden. Sie ist das befreiende Wort, das Veränderungen im Verborgenen beginnen lässt, am Ende die scheinbar Mächtigen vom Thron stürzt und den Schwachen aufhilft. Dieses Wort ist die Macht, die den Funken anhaucht und Flammen neu entzündet. Wer im Innersten entflammt ist von diesem göttlichen Funken, geht verwandelt durch die Welt. Diese Macht definiert Erfolg radikal neu. Gelungenes Leben bemisst sich nicht nach Titeln und Reichtum, Bekanntheit, äußerer Schönheit, Lebensdauer oder Followern auf Facebook und Tiktok. Entscheidend sind jene Momente, in denen wir liebten - gerade dort, wo es schwer ist, zu lieben. Vielleicht, ohne zu wissen, dass wir damit einen göttlichen Auftrag erfüllten.
Ich liebe Dich.
Das wird vielfach besitzergreifend und exklusiv verstanden.
Liebe, die lange anhalten soll, muss aber anders sein.
Die Entwicklungsaufgabe von Liebe ist, dem Du Raum zu geben und loszulassen.
Jesus erzählt Geschichten.
Er macht damit unsichtbare Wahrheiten in menschlichen Bildern deutlich. Doch gleichzeitig müssen wir zwischen dem Bild und der dargestellten Wirklichkeit unterscheiden.
Ein Vater hatte zwei Söhne. [Lk 15, 11-32]
Tatsächlich sind die Geschichten, die in der Bibel erzählt werden, das unterhaltsame Trockenpulver von Urerfahrungen, bei denen viele Situationen mitgemeint sind. Ich weiß, dass es auch Töchter gibt, die weglaufen. Es gibt Väter und Mütter, die selbst dazu beitragen, dass Kinder besser dran sind, wenn sie gehen. Es braucht beim Lesen die Kunst, die eigenen Erfahrungen in die erzählten Geschichten einzutragen.
Trotzdem. Ich gebe zu, es ist etwas anderes, den Text zu lesen, wenn man selbst Vater ist und zwei Söhne hat.
Der jüngere Sohn will gehen. Der Raum bei seinem Vater ist ihm zu eng geworden.
Liebe gewährt Raum, um zu sich selbst zu finden.
Der Vater zahlt das Erbe aus.
Liebe gewährt die nötigen Mittel, um eigene Erfahrungen zu machen.
Das Bild müssen wir loslassen.
Zu oft haben Väter sich selbst an die Stelle des absoluten Du gesetzt.
Das Bild müssen wir loslassen.
Wenn mein Kind geht, muss es nicht zu mir zurück.
Unser Ziel ist das absolute Du.
Das Kind findet zum Du, wenn es zu sich selbst gefunden hat.
In der Erfahrung der ersten Christen ist das Verhältnis zwischen Jesus und dem absoluten Du einzigartig.
Weil Jesus sich vom absoluten Du getragen weiß, findet Jesus die Energie, andere zu tragen. In seiner Nähe finden andere Heilung, weil er nicht bindet, sondern befreit.
Gibt es das? Liebe, die einfach schenkt?
In sozialen Berufen wird viel gegeben.
Manche vergessen dabei die Pflege der eigenen Resourcen. Ich kann nur geben, was ich selbst empfangen habe. In meinem Herzen ist der Marktplatz, an dem ich neues Öl kaufen kann, um dem Du bedingungslos zu begegnen.
Jesus beherrscht einzigartig die Kunst, sich vom absoluten Du in seinem Herzen so erfüllen zu lassen, dass er andere liebevoll berühren und für den eigenen Weg stärken kann.
Sich dem Du zuwenden ohne Bedingung gelingt, wenn ich mich vom absoluten Du getragen weiß. Die Botschaft der Christen ist: mitten unter uns lebte ein Mensch, der uns auf einmalige Weise den Weg zeigte.
Unsere Sehnsucht nach bedingungsloser Liebe verweist tatsächlich auf eine Realität, die stärker ist als der Tod.
Das zu sagen darf nur wagen, wer selbst in der Ohnmacht eine Kraftquelle gefunden hat, die half, wieder aufzustehen und weiterzugehen.
Jesus Christus geht in die Ohnmacht, um Raum für uns zu schaffen.
Liebe schafft unabhängigen Raum für andere.
Liebe lässt los, damit andere zu sich selbst finden.
Liebe bleibt, um gemeinsam für andere einen Weg zu öffnen.
Ich kann nur bei Dir bleiben, wenn Du mich immer wieder loslässt.
Ich habe meinen eigenen Weg in dieser Welt. Ich muss diesen Weg gehen. Erträgst Du das?
Liebe bleibt der Geschichte treu, die gemeinsam begonnen wurde.
Der Blick auf Jesus bestimmt die Perspektive auf die Welt. Wir sind Arbeiter in einem Weinberg, die schenken, was wir selbst kostenlos empfangen haben.
Wir selbst sind ein Weinberg, in dem andere arbeiten. Viele Impulse entwickeln und prägen das Bewusstsein.
Zehn Frauen erwarten den Bräutigam. Die Frauen sind vorbereitet. Sie haben sich am Treffpunkt eingefunden. Sie haben Lampen dabei. [Mt 25, 1-13]
Erst die verspätete Ankunft des Bräutigams offenbart das Problem: Fünf Frauen fehlt Öl. Die anderen Frauen hatten wohl mit der Verspätung gerechnet und ausreichend Öl mitgenommen.
Wäre es nicht christlich zu teilen?
Die als klug bezeichneten Frauen weigern sich. Sie meinen, das Öl würde dann für keinen mehr reichen.
Am Ende stehen fünf Frauen draußen. Es nützt ihnen nichts, dass sie rufen.
Die seltsame Geschichte wird im November in katholischen und evangelischen Kirchen gelesen. Im November gedenken die Kirchen der Verstorbenen und erwarten eine Zukunft, in der das Leben den Tod besiegt.
Diese Zukunft beginnt heute. Das Leben besiegt den Tod, wenn wir uns den Freuden und Ängsten der anderen zuwenden. Wir setzen uns für andere ein und verändern damit einen kleinen Teil der Welt für den anderen - hoffentlich positiv. Die Liebe ist unsere erste und wichtigste Aufgabe in der Welt.
Das Öl steht scheinbar für ein Teil der Vorbereitung, die wir selbst treffen müssen. Da kann uns kein anderer Mensch aushelfen.
Es geht um Selbstfürsorge.
Das Ölgefäß sind wir selbst.
Natürlich können uns andere helfen, unseren Weg zu gehen, aber es bleibt unser eigener Weg. Natürlich können und sollen wir uns gegenseitig unterstützen und mit Fähigkeiten und materiellen Dingen helfen.
Die Grenze des Gebens liegt dort, wo wir selbst nicht mehr unsere Aufgaben erledigen können, wenn wir abgeben. Manchmal können wir nicht mehr geben, weil es dann "weder für uns noch für euch" reicht.
Wir müssen und dürfen auf uns selbst achten.
Paulus spricht vom Tempel des Heiligen Geistes. [1 Kor 6,19f.]
Ich bestimme nicht über Deinen Weg.
Du bestimmst nicht über meinen Weg.
Wir können nur bereit für unsere Aufgabe sein, wenn wir uns selbst vorbereiten.
Wir selbst müssen die Händler und Geldwechsler aus unserem Herzen vertreiben.
Wie geht das?
Möglichst viel Bibel lesen und regelmäßig in den Gottesdienst gehen?
Natürlich ist es gut, regelmäßig die Quellen des eigenen Glaubens aufzusuchen, den Kontakt zu Gott im ständigen Gebet zu pflegen und sich der Gemeinschaft der Gottsucher nicht zu entziehen.
Aber am Ende kann es sein, dass all das nicht reicht.
Den törichten Jungfrauen reicht nicht, den Bräutigam zu kennen und ihn zu rufen.
In mancher Krise gehen wir zu spät zu den Händlern. Wir finden die Tür zum neuen Leben verschlossen, weil wir nicht mit den Überraschungen des Lebens gerechnet haben.
Bei der Rede vom Weltgericht kommen jene in den Himmel, die noch nie von Gott hörten. Zu oft erzählten uns Glaubende in Bildern von Gott, die nicht zu unseren Erfahrungen passen. Zu oft behindern uns Glaubende auf unserem Weg zum absoluten Du. Doch das Du ist in jedem von uns. Wichtiger als die Bilder vom Du ist das Du selbst.
Lass die Vorstellung los, dass Dein Weg auch für andere der Weg sein muss. Erzähle von deiner Hoffnung, wenn Du gefragt wirst, aber urteile nicht über andere Wege.
Im Herzen der Menschen wartet das Du auf unsere Antwort. Sind wir für das Feuer bereit, das unser altes Leben verbrennt und die Tür zum neuen Leben öffnet?
In der Stille der Nacht gedenke ich der Arbeiter in meinem Weinberg. [Mt 20, 1-16]
Eines Abends sass ich am Ufer der Donau und blickte in den Sternenhimmel. Es war eine klare, kalte Nacht. Ich spürte die Ewigkeit und die Vergänglichkeit. Ich spürte die Vielfalt in mir, die mein Ich immer neu formt. Ich spürte die Zerbrechlichkeit der Zeit und des Körpers.Meine Niere arbeitete kaum noch. Die Dialyse hatte begonnen.
Ich bin Teil einer langen Geschichte. Ich verdanke meine Existenz vielen Entscheidungen von vielen Vorfahren. Ich verdanke mein langes Leben der Weisheit von Forschern und Ärzten.
Viele wagten den Aufbruch in ein unbekanntes Land, das sie in ihrem Leben selbst nie mit eigenen Augen sehen konnten.
Biologisch endet die Geschichte meiner Gene mit meiner Generation. Und doch ist absehbar, dass meine Existenz über meinen Tod hinaus andere beeinflussen und formen wird.
Das ist normal. Jeder formt seine Umwelt mit. Manchmal durch Handeln. Manchmal durch Untätigkeit.
Ich verdanke meine Stunden, die ich hier verbringe, liebenden Menschen, die am Rande des Nichts ihre Jahrzehnte verbrachten. Manche sind bereits gegangen.
Wer sind die Arbeiter im Weinberg meines Lebens?
Gott schickt Menschen, die meinen Weg formten und prägten. Ich selbst bin der Weinberg, der bearbeitet wird. Ich selbst bin verantwortlich für andere, deren Leben ich begleite und präge. Manche begegnen mir kurz im Bus oder im Internet. Manche begleiten mich viele Jahre. Mit Martina startete ich in Leipzig eine Geschichte, die ich über ihren Tod hinaus auf meine eigene Art weiterschreibe. So bleibt Martinas Erbe lebendig und öffnet auch heute Türen.
Jeder Mensch ist ein Weinberg, in dem viele wirken. Jeder von uns ist ein einmaliger Weinberg. Es ist gut, darauf zu achten,von welchen Arbeitern wir uns langfristig prägen lassen.
Nicht immer haben wir darauf Einfluss, wer uns prägt. Aber wir haben immer neu die Chance, auf neue Weise auf das Leben zu reagieren.
„Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.“
Viktor Frankl
Ich zitiere an dieser Stelle Viktor Frankl im Wissen, dass der Begründer der Psychoanalyse selbst Ohnmacht erfahren hat.
Die Beziehung zu seinem Vater gab Jesus die Energie, auf einzigartige Weise auf die Ohnmacht der Menschen zu reagieren. Unsere Aufgabe ist, von unserer Hoffnung zu erzählen und den Weg selbst zu gehen.
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