Wahrer Mensch

Die größte menschliche Gabe ist die Fähigkeit, den Menschen neben Dir zu sehen und seine Bedürfnisse zu verstehen. 

Oprah Winfrey

Notizen Zum Credo 26

Jesus am Ölberg. Würzburg.
Jesus am Ölberg. Würzburg.

Viele Areale des Gehirns müssen zusammenwirken, um das Ich ins Bewusstsein zu rücken. Unser vertrautes Ich scheint ebenso durch die Finger zu gleiten wie die Vorstellung von Gott. Und doch prägen die vielen Menschen mit ihrem individuellen Ich die Welt. Die Gemeinschaft trägt das Ich. Ein konkreter Körper mit konkreter Geschichte entsteht, wandert durch die Zeit und verschwindet wieder in der Ewigkeit.

Es gab in den ersten Jahrhunderten unter den Christen Diskussionen, ob Jesus wirklich Mensch war. Aus der Sicht des Doketismus kann Jesus Christus nur dann wahrer Gott sein, wenn der Körper nur ein Scheinleib war. Seine physische Existenz wird von der göttlichen Quelle getrennt. Das Leid des Menschen Jesus Christus berührt letztlich nicht Gottes ewige Allmacht. 

Das Credo hält dagegen fest: 

er ist Mensch geworden!


Als Mensch blickt Jesus Christus in einer bestimmten Perspektive auf diese Welt. 

Als Mensch teilt er die Dunkelheit einer Existenz, in der wir uns suchend und fragend durch Raum und Zeit tasten. 

Als Mensch deutet Jesus Christus die Wirklichkeit in der Begegnung mit dem Du und gewinnt so an Weisheit und Wissen. 

Als Mensch empfindet er Schmerz und Ohnmacht, Müdigkeit, Hunger und Durst. 

Als Mensch empfindet er für manche Menschen mehr Zuneigung und Freundschaft. 

Als Mensch sucht er seine Aufgabe und seinen Weg. Er kennt Zweifel und Unsicherheit. 


Wir haben ja nicht einen Hohenpriester, der nicht mitfühlen könnte mit unserer Schwäche, sondern einen, der in allem wie wir in Versuchung geführt worden ist, aber nicht gesündigt hat. [Hebr 4,15]

Das Ich steht in einem Sturm der Gefühle und muss auf viele Impulse reagieren. Nicht immer gelingt es uns, auf Reize angemessen zu reagieren. Man kann darüber streiten, ob Jesus Christus im Rückblick immer angemessen reagiert hat. 

Die Szene am Ölberg zeigt sein Dilemma, in dem jeder steht:


Jetzt ist meine Seele erschüttert. Was soll ich sagen: Vater, rette mich aus dieser Stunde? Aber deshalb bin ich in diese Stunde gekommen. [Joh 12,27]

Wir suchen tastend unseren Weg. 

Dabei stolpern wir und treten anderen auf die Füße. Doch mit dem Licht im Herzen erkennen wir unseren nächsten Schritt. 

Finden wir die Kraft, den Weg zu gehen, den wir im Innersten gehen müssen?

Finden wir diese Kraft auch dann, wenn unser Körper, unser Überlebenswille, unsere Psyche Angst vor den Konsequenzen hat? 

Die Welt verändern wir dort, wo wir alles loslassen, was uns hindert, unseren Auftrag zu erfüllen, auch wenn wir damit die Erwartungen nicht erfüllen. 


Als Mensch ist Jesus Christus Teil von Erwartungen und Rollenmustern.

Er nimmt diese Erwartungen und Rollen an.

Und doch findet er seine eigene Deutung.

Er ist der König, verweigert aber die politische Ausrufung zum König. 

Er hält sich an die Gesetze und Traditionen, deutet sie aber so, dass die Liebe zum Du im Mittelpunkt steht.

Jesus Christus bleibt im Dialog mit den Suchenden und reagiert ungehalten auf Menschen, die glauben, Gott zu kennen. 

Jesus Christus ruft nicht zum Umsturz auf. Die Zuwendung zum Du ist nicht davon abhängig, wer gerade in der Welt Macht ausübt: 


Die Schriftgelehrten und die Pharisäer haben sich auf den Stuhl des Mose gesetzt. Tut und befolgt also alles, was sie euch sagen, aber richtet euch nicht nach dem, was sie tun. [Mt 23, 2-3]


Lass sie sitzen. 

Mach das, was die Mächtigen verlangen. 

Mach sogar mehr als gefordert. 

Lass den Anspruch ins Leere laufen. 

In der Welt scheinen die Mächtigen und Bösen Erfolg und Glück zu haben. Doch sie rennen in ihr Unglück. Beneide sie nicht und lauf ihnen nicht nach. 



Sei still vor dem Herrn und harre auf ihn! / Erhitze dich nicht über den Mann, dem alles gelingt, / den Mann, der auf Ränke sinnt.

Steh ab vom Zorn und lass den Grimm; / erhitze dich nicht, es führt nur zu Bösem. [Ps 37,7-8]


Achte wachsam darauf, wo Du das Leben der Ohnmächtigen erleichtern kannst. Suche nicht selbst nach weltlicher Macht. 

In diese Ohnmacht ruft Jesus Christus Menschen. 

Vielleicht ruft Jesus  Christus besonders Männer in ein Amt der Ohnmacht, weil Männer zu oft in der Welt andere in die Ohnmacht geschickt haben?


In der Kirche wird zu oft von Dienst gesprochen und doch Macht ausgeübt. Dadurch verliert das Salz seinen Geschmack. Wir brauchen ein Dienstamt der Ohnmacht, das zeigt, wie es anders gehen kann. 

Jesus trifft Philippus. Der kommt aus dem Heimatort von Andreas und Petrus. Philippus holt den Natanael mit in den Freundeskreis. Es stellt sich heraus, dass Jesus ihn schon kannte. Jesus hatte ihn unter einem Feigenbaum gesehen. Was auch immer Natanael dort getan hat. Es war wohl so bedeutsam, dass Jesus die Szene im Gedächtnis behielt und auch Natanael scheint sich zu erinnern. 

Es ist nicht gut, wenn der Mensch allein ist. (Gen 2,18) Damit wird schon auf den ersten Seiten der Bibel der Menschen als Beziehungswesen definiert.

Auch wenn Jesus selbst nie verheiratet war, enge Freundschaften waren ihm wichtig. In Lukas 8, 1-3 erfahren wir, dass in seinem engeren Umfeld Männer und Frauen waren. Neben dem männlichen Jüngerkreis erhalten selbstverständlich auch Frauen zentrale Aufgaben. Besonders herausragend ist ihre Rolle bei der Salbung Jesu (Joh 11,2) und als Zeugen der Auferstehung Jesu. (Mt 28,9). Die Evangelien legen freilich auch den Verdacht nahe, dass die männlichen Jünger damit ein Problem hatten. Sie wunderten sich, dass Jesus mit einer Frau am Jakobsbrunnen geredet hatte (Joh 4,27) und sie halten die Botschaft von der Auferstehung für Weibergeschwätz. (Lk 24,11)

Berufung ist insofern zunächst einmal nicht davon abhängig, ob sie von anderen anerkannt wird, Bezugspunkt einer christlichen Berufung ist zunächst einmal Jesus Christus. In der konkreten Ausgestaltung einer Berufung stießen Berufene immer wieder an Grenzen. In besonders beeindruckender Weise formuliert das Therese von Lisieux: 

"Ich fühle mich zum Priester berufen. O Jesus, mit welcher Liebe würde ich Dich in Händen halten! Mit welcher Liebe würde ich Dich den Gläubigen geben! Trotz meiner Kleinheit möchte ich den Menschen Licht bringen, wie die Propheten und Kirchenlehrer es taten. Ich fühle mich zum Apostel berufen. Ich wollte um die Welt reisen, um Deinen Namen zu verkünden."

Johannes Paul II hat die Diskussion zum Frauenpriestertum für beendet erklärt. Derselbe Papst hat Therese zur Kirchenlehrerin ernannt. Die französische Heilige schaffte das Kunststück, im Herzen der Kirche  ihrer Berufung treu zu bleiben ohne sie aufzugeben. In den Akten zum Heiligsprechungsverfahren steht: 

 "Als sie sich 1897 bewußt war, daß sie Lungentuberkulose hatte, sagte sie: ,Der liebe Gott ist im Begriff, mich in einem Alter zu sich zu nehmen, da ich noch nicht die Zeit gehabt hätte, Priester zu sein . . . Wenn ich hätte Priester werden können, hätte ich in diesem Juni die heiligen Weihen empfangen. Was tat also Gott? Damit ich nicht enttäuscht würde, ließ er mich krank werden. Auf diese Weise konnte ich nicht dabeisein, und ich sterbe, bevor ich mein Amt ausüben könnte.'"

Christliche Berufung ist aber eher Evolution als Revolution. Und so deutete sie ihren Platz. Wer Jesus bereits im Herzen trägt, muss nicht um Ämter kämpfen. Die Diskussionen um kirchliche Dogmen und Ämter mögen in der Gegenwart ihre Bedeutung haben. Berufung aber hat die Ewigkeit im Blick.

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