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Leben im Nebel

Für Sophie

Am Weg nach Wernigerode gibt es hinter Halle einen dichten Nebel. Sichtweite 100 Meter. Ich fahre. Langsam. Ein Auto überholt flott. Ein Risiko. Er kann nichts sehen. Es hätte zu einem Unfall kommen können. 


Das Leben ist eine Existenz im Nebel. Viele Dinge bleiben fremd und rätselhaft. Trotzdem gehen viele Menschen achtlos miteinander um. Sie denken nicht über mögliche Folgen nach. Vielleicht aber sind sie auch zu sehr mit sich beschäftigt. 

Manche bewegen sich selbstsicher und verstehen nicht, warum andere so zögernd und ängstlich sind. 

Kein Gott verhindert, dass wir einander verletzen. 

Wir brauchen uns gegenseitig in diesem Nebel. 

Manche Menschen haben uns so sehr verletzt, dass wir sie am Liebsten nie wieder sehen würden. 

Paulus schreibt, dass wir erst in der Ewigkeit wirklich verstehen werden und verstanden werden. Hier in dieser Wirklichkeit tasten wir uns vorsichtig voran. Dabei helfen uns Freunde. 

Die Zeit miteinander und füreinander ist wertvoll, weil wir  nicht wissen, wann die Zeit endet. 

Mein Glaube ist davon geprägt, dass ich chronisch krank bin und dass ich viele liebe Menschen am Weg schon verloren habe. Deshalb nehme ich mir bewusst Zeit für konkrete Menschen. 

Die göttliche Trinität, an die ich glaube, ist selbst in die Ohnmacht gegangen. In dieser Welt ist sie auf unser Handeln füreinander angewiesen. Sie verhindert nicht ungerechte Taten. Sie geht mit uns durch das Leid. Sie hat mit der Erde einen Raum geschaffen, in dem wir uns unserer Individualität bewusst werden und mit anderen lieben und leiden. 


Kurz vor Wernigerode setzt sich die Sonne langsam durch. Die Hügel des Harz werden sichtbar. Der Brocken leuchtet in der Abendsonne. Die Sicht wird klar. Der Nebel wird zur fernen Erinnerung. 


Es tröstet mich, dass dieser Nebel nicht ewig bleibt. Wir kommen alle aus der gleichen Quelle.  Wir gehen gemeinsam durch Raum und Zeit. Am Ende treffen wir in der Zeitenstille jene Menschen wieder, die wir loslassen mussten. 

Andere Menschen würden wir am Liebsten nie wieder treffen. Die Vorstellung einer neuen Konfrontation macht uns vielleicht sogar Angst. 

Doch, wenn der Nebel weicht, erkennen wir vielleicht, wo wir selbst vom Weg abgekommen sind und warum uns manche Menschen verletzten. 

Urteilt nicht, damit ihr selbst nicht verurteilt werdet. Oft verstehen wir nicht einmal unser eigenes Handeln. Wir reden, wo wir schweigen sollten. Wir schweigen, wo wir uns einmischen sollten. 

Alle waren im Nebel. Es war nicht leicht, den Weg zu finden und auf ihm konsequent zu bleiben. 

Am Ende gehen uns die Augen auf.


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