Zeit ist ein vorübergehendes Phänomen. Im Flug durch die Ewigkeit sind wir nur wenige Jahrzehnte auf diesem Planeten und in diesem Körper. 1992 hatte ich einen Gedanken. Was wäre, wenn Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in diesem Augenblick zusammenfließen? Ich saß im Zug und überlegte, wie ich eigentlich zu diesem Moment gekommen war und was die Orte und Begegnungen aus dem jungen Ernst-Ulrich wohl machen werden. Doch nichts bereitete mich auf die Zukunft vor, die dann real wurde. Oder doch? Im Sommer 1992 besuchte ich tatsächlich alle Orte meiner Biographie in Geschichte und Zukunft. Hier nun beginnt der Dialog meiner Reise durch Raum und Zeit.
Wir müssen uns von dem Leben lösen, das wir geplant haben, um das Leben zu finden, das auf uns wartet. Der Gedanke wird Oskar Wild zugeschrieben.
Warum muss ich gerade jetzt daran denken, während die Regionalbahn die alte Stadt an der Donau verlässt, an diesem sonnigen Tag im August 1992?
Die Zukunft ist noch ungeschrieben. Das Abitur liegt hinter mir. Der Zug fährt in ein unbekanntes Land. Die tödliche Grenze hat unerwartet ihren Schrecken verloren. 1992 nehme ich mir zum ersten Mal Zeit für die neuen Bundesländer. Nicht ganz der erste Besuch.
Ein erster kurzer Besuch führte mich 1990 nach Plauen. Mit einer alten Dampflokomotive waren mein Bruder und ich von Hof nach Plauen gefahren. Es war der 3. November 1990...einen Monat nach der Wiedervereinigung.
Nun aber besuche ich die ersten Städte im Osten. Dresden, Leipzig, Erfurt, Eisenach und Magdeburg.
Seltsam. Meine Reise durch Deutschland führt zuerst zu den Orten, die 30 Jahre später meine Heimat werden. Aber noch sind meine Augen verschlossen.
Meine erste Heimat war Regensburg. Vielleicht war meine erste Heimat auch der Osthafen. Die Grundschule besuchte ich in Barbing. Die Menschen sprachen einen starken Dialekt, den ich passiv verstand, aber aktiv nicht sprach.
Die Fahrkarte bitte!
Der Schaffner spricht sächsisch. Ich zeigte mein Monatsticket. Einen Monat habe ich Zeit, das Streckennetz von Deutscher Bundesbahn und Deutscher Reichsbahn zu befahren.
Sprache verbindet. Sprache grenzt aus.
In der Grundschule wurde ein Theaterstück aufgeführt. Es wurde im bayerischen Dialekt gespielt. Eine Rolle auf Hochdeutsch war nicht vorgesehen. Daher musste ich den kurzen bayerischen Text oft üben.
In der Schweiz wird dann 1998 französisch und englisch gesprochen. Und ab 2022 werden ukrainische Worte in meinen Wortschatz einfließen.
Ich werde in Europa zu Hause und mit der Welt vernetzt sein. Enge Freundschaften werden meine Gedanken auf Reisen schicken, nach Indonesien, Indien, Südkorea, Kenya, Bulgarian, Ungarn...
Gleichzeitig wird der Körper enge Grenzen setzen.
Die Ohnmacht des Körpers prägt meine Theologie ebenso wie das Staunen darüber, dass ich immer noch lebe. Das gilt auch in der Gegenwart des Jahres 1992.
Ich muss umsteigen. Der Geruch von Braunkohle und dunkle Fassaden. Plattenbauten am Vorplatz. Die Ruine einer Kirche als Zeuge der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg. Ich bin in Dresden.
1946 erreichten Vertriebene die zerstörte Stadt. Unter ihnen ein Teenager: Ernst Kneitschel, mein Vater.
Ich gehe zur katholischen Hauptkirche. Sie ist verschlossen. Die folgenden Jahrzehnte werden vom Bemühen gezeichnet sein, einen Spalt in der Tür zu finden.
Am Abend sitze ich an einer orthodoxen Kirche in Dresden. In der Nähe sitzen junge Soldaten mit Uniform. Sie gehören zur abziehenden sowjetischen Armee. Ihr Land ist Ende 1991 untergegangen. Dem Untergang des Landes sah auch ein anderer in Dresden zu. Er sollte später als Präsident versuchen, das Rad der Geschichte zurückzudrehen: Putin. Sein Überfall auf die unabhängige Ukraine führte dazu, dass in meiner Wohnung eine ukrainische Familie heimisch wurde.
Am nächsten Tag erreichte ich zum ersten Mal in meinem Leben Leipzig.