Flüchtige Begegnung

Begegnungen zwischen Menschen sind, so will es mir oft scheinen, wie das Kreuzen von besinnungslos dahinrasenden Zügen in tiefster Nacht. Wir werfen flüchtige gehetzte Blicke auf die Anderen, die hinter trübem Glas in schummrigem Licht sitzen und aus unserem Blickfeld wieder verschwinden, kaum daß wir Zeit hatten, sie wahrzunehmen. [...] Gleiten unsere Blicke nicht immerfort an den Anderen ab, wie in der rasenden Begegnung des Nachts, und lassen uns zurück mit lauter Mutmaßungen, Gedankensplittern und angedichteten Eigenschaften?

 Ist es nicht in Wahrheit so, daß nicht die Menschen sich begegnen, sondern die Schatten, die ihre Vorstellungen werfen? 

 Pascal Mercier, Nachtzug nach Lissabon.


Manche Menschen sehen wir oft, trotzdem begegnen wir ihnen nicht. Manche Menschen sehen wir nur einmal kurz - und sie verändern das Leben.

Doch was wissen wir von ihnen? Von denen, die wir täglich treffen? Von denen, die unser Leben prägen?

Ist es so, dass wir dem anderen nicht wirklich begegnen? Vielleicht gar, dass wir dem anderen nicht begegnen können? Im Du begegne ich mir selbst. Im Du begegne ich Gottes Spuren in der Welt. Im Du begegne ich einer Geschichte, die ich nie ganz kennen kann. Aber ich kann mich liebend herantasten an das Geheimnis und so über mich selbst hinauswachsen. Dies gelingt nur, wenn ich die Schubladen und Schablonen hinter mir lasse und auf ein letztes Urteil verzichte. Klar, ich werde mir ein Bild machen, aber immer in der Bereitschaft, die Vorstellung zu korrigieren.

E.-U.K.