Besuch eines Touristen aus Regensburg

Ein persönliches und spirituelles Loblied auf Leipzig

Teil 2

Sommer 1992. Am Leipziger Hauptbahnhof trifft ein Regionalzug aus Dresden ein. Unter den Reisenden auch ein Abiturient aus Regensburg. Im Leistungskurs Geschichte (1990 - 1992) wurde viel über die friedliche Revolution in der DDR gesprochen. Stand die eigentlich so kurz danach schon im Lehrplan? Wohl eher nicht. Wahrscheinlich lag es eher am Gespür des Lehrers für den historischen Augenblick. Und natürlich fiel in diesem Kontext der Name dieser Stadt: Leipzig. Und deshalb kam ich hierher. Das Tagebuch des Abiturienten notiert:

"Zeit war nur für einen kurzen Abstecher in die Nikolaikirche. Eine besondere Kirche, die eine wichtige Rolle in der Geschichte der Umwälzung 1989 spielte." 

Das ist ein recht kurzer Eintrag. Der ehemalige Leipziger Student Goethe fasste sich in Regensburg noch kürzer: die Gegend ist gar schön. Sie musste eine Stadt anlocken.

Mein erster Besuch hier am 19. August 1992 unterwegs  von Dresden nach Erfurt und Eisenach dauerte exakt eine Stunde. Ich verließ den gewaltigen Kopfbahnhof und steuerte zielsicher die Nikolaikirche an. Nur wenige Menschen waren gerade in diesem unverwechselbaren Gotteshaus, als ich das einladende Schild passierte: Nikolaikirche - offen für alle. Hier also fanden sie statt, jene Montagsdemonstrationen, die aus meiner Sicht das Ende der deutschen und europäischen Teilung brachten. Von dieser Stadt kamen die bereits 1992 historischen Bilder des 9. Oktobers 1989, als Kerzen über die Staatsmacht siegten. Warum eigentlich ist dieser Tag nicht Nationalfeiertag? 

 

Nein, ich ahnte nicht die Kompexität der historischen Ereignisse, deren Deutung bis heute je nach politischer und auch religiöser Sichtweise durchaus unterschiedlich bewertet wird. Geschichte ist subjektiv.

Nein, ich ahnte nichts von den Stürmen meines Lebens, die meine Seele auf verschlungenen Pfaden über Wien, Würzburg, Genf und Mainz wieder nach Leipzig treiben würde, um hier Wurzeln zu schlagen. Geschichte ist nicht planbar. 

 

Ich hatte zuvor in Benediktbeuern beschlossen, Theologie zu studieren und mich tatsächlich für diesen Studiengang in Regensburg immatrikuliert. Das bereute ich nie. Während der Fahrt durch Deutschland wollte ich eigentlich nur noch ein kleines Detail klären: Will ich Priester werden? Die Frage blieb trotz Eintritt ins Regensburger Priesterseminar 1992 und Hochzeit 2003 bis 2021 unbeantwortet. Das kommt davon, wenn man die falschen Fragen stellt. Doch das ist ein anderes Thema und soll erst später erzählt werden.

 

Noch am Tag der Immatrikulation an der Universität Regensburg war ich mit einer Monatskarte aufgebrochen. Mein erstes Ziel lagen im Freistaat Sachsen oder in katholischer Betrachtung: im Bistum Dresden-Meißen. Und tatsächlich steuerte ich erst den Sitz des Ortsbischofs an: die Hofkirche in Dresden. 

 

Zwischen Hof und Plauen überquerte der Zug die Grenze, an der für mich als Kind und Jugendlicher die Welt zu Ende war. Gebannt blickte ich mit meinem Vater 1987 mit einem Feldstecher auf die Grenzanlagen. Noch bevor die DDR  gegründet war, kam auf bis heute ungeklärte Weise sein Vater an der Grenze zur Sowjetischen Besatzungszone ums Leben.

1988 starb mein Vater. Im Jahr nach seinem Tod fiel die Mauer. Das Unvorstellbare war geschehen. Bis heute halte ich überrascht den Atem an, wenn ich auf der Autobahn die Grenze überquere, an die nur noch Museen und Gedenkorte erinnern. Und wenn ich davon erzähle, fühle ich mich wie ein Opa, der seinen Enkeln Geschichten vom Krieg erzählt, also jener, der Glück hatte und nie an die Front musste.  Ich bin im Regensburger Osthafen aufgewachsen. Leipzig schien unerreichbar.

Mein Zug, der südlich von Plauen in das junge Bundesland Sachsen einfuhr, führte mich nach Dresden. Dorthin zieht es mehr Touristen als nach Leipzig. In Dresden besuchte ich die Hofkirche und die Ruine der Frauenkirche. An der orthodoxen Kirche nahe dem Hauptbahnhof schrieb ich Tagebuch.

Erst am zweiten Tag besuchte ich Leipzig. Ein kurzer Abstecher nur. Erst ab 1998 gewann die Stadt für mich an Bedeutung.