Manchmal gehen wir achtlos an Menschen und Orten vorbei, die später in unserer Biographie eine tragende Rolle spielen. Bis heute bedauere ich, dass ich 1992 nur eine Stunde in Leipzig war. Ich sah auf das Äußere (1 Sam 16). Braunkohle lag noch in der Luft. Mondlandschaft begrüßte mich am Weg hierher. Hätte ich nur auf das Herz der Stadt geblickt, wäre ich geblieben. Doch ich war noch nicht bereit.
Ich ahnte nicht, dass die Stadt aufblühen wird. Ich ahnte nicht, dass aus den grauen Felsen südlich von Leipzig Deutschlands schönste Seenlandschaft entstehen wird. Ich ahnte nicht, dass hier bald Jahr für Jahr 10.000 Menschen hinziehen werden. Ich ahnte nicht, dass ich hier mein Herz verliere.
Wer mich heute in Leipzig besucht, bekommt recht zügig diese Kirche gezeigt.
Historisch ist sie nicht weniger bedeutsam für die friedliche Revolution von 1989 als die Nikolaikirche. Nur ist das den wenigsten bekannt. Auch hier kämpften mutige Menschen für ihre Freiheit.
Biographisch wurde diese Kirche am Nordplatz meine Hochzeitskirche. Hier am Nordplatz wohnte Martina. Ich hatte sie 1997 in Würzburg im Ökumenischen Hochschulchor kennengelernt. Sie war als Richterin nach Leipzig gegangen. Und ich folgte.
Im Sommer 1998 traf ich ein. Martina holte mich ab. Wir fuhren mit der Straßenbahn zum Nordplatz und gingen von der Haltestelle direkt in ihre Wohnung. Nach einem unvergesslichen Abend schlief ich ein und erwachte am nächsten Morgen. Martina schlief noch und mein Blick ging erst jetzt zum Fenster.
Vor mir erhob sich die Michaeliskirche in ganzer Schönheit als wäre sie gerade erst in dieser Nacht da hingestellt worden.
Die Morgensonne tauchte das Gemäuer in strahlendes Licht.
Ich musste an die Inschrift über dem Altarraum in der Regensburger Schottenkirche denken:
Ecce thronus fulgescit regis et agni
Deutsch: Hier ist aufgerichtet der Thron Gottes und des Lammes.
Klar, aus dieser Assoziation spricht der katholisch sozialisierte Theologe. Andere hätten hier schlicht gesagt: Beeindruckend! Der Ort gefällt mir. Doch ich gehöre zu den seltsamen Menschen, die in jedem Moment mit dem rechnen, was sie Gott nennen.
Ausgerechnet hier schien mir Gott plötzlich besonders nahe. In dieser Stadt, in der es normal ist, nichts zu glauben.
Ausgerechnet in diese Stadt, in der mir mein bisheriges Theologiestudium nichts nützte. Wer sollte mich anstellen wollen?
Ausgerechnet hier habe ich mehr über diese innerste Mitte meines Lebens gelernt als in allen Vorlesungen an den theologischen Fakultäten.