"Geht das zusammen oder einzeln? Die Bedienung im Restaurant stockt: "Oh, Entschuldigung, Sie sind ja allein." Es ist der 28. Juni 2020, der erste Hochzeitstag nach Martinas überraschendem Tod. Bald ist sie sechs Monate nicht mehr hier in Raum und Zeit greifbar, ihr Lachen verstummt, von dem Julia so schön schreibt. Ich gehe durch einen Wald, ich sitze in einem Restaurant, allein. Die Bedienung kennt mich nicht. Sie ist in Hektik. An allen Tischen sitzen viele Paare und Familien. Kinder spielen. Ich hatte schon früher kein Problem, mal allein in einem Restaurant zu sitzen, ein Tagebuch vor mir, ein Cappuccino mit Kuchen dazu, vielleicht eine Donauwelle oder eine Leipziger Lerche - als Spannungsbogen meines Lebens. Vom Geburtshaus im Regensburger Hafen zum Doppelgrab in Leipzig, beides nahe dem 12. Längengrad. Da freut sich der Theologe - wegen der Zahl 12.
Manchmal gehe ich durch die Straßen und spüre, dass ich nicht allein bin. Eigentlich begleitet mich das Gefühl von Kindheit an. Eigentlich begleitete es mich sogar in den Krankenhäusern meiner Kindheit, aber es kann auch sein, dass ich das nachträglich verkläre. Sicher aber begleitete mich das Gefühl nach der Transplantation 2003, im Jahr der Hochzeit mit Martina.
Martina...
Sie fehlt im Alltag, den ich nur schlecht im Griff habe, obwohl andere sagen, dass ich alles gut meistere.
ich habe sie im Traum getroffen, einmal und ein zweites Mal: Die Frau, die in den letzten Jahren eigentlich fast nur im Schlaf ihre Ängste loslassen konnte, sitzt da, als wolle sie gleich zur Arbeit aufbrechen: "Es wird alles gut werden." Klar, das wünsche ich mir und das passt zu meinem Optimismus. Aber ich würde nicht wagen, es in ihren Mund zu legen. Doch sie lächelt spöttisch.
Du ungläubiger Theologe, sagen ihre Augen.
Ich hätte da ja tausend Fragen an sie wegen der Ewigkeit und wegen dem Sinn der Welt, doch Martina legt den Finger an den Mund. Als habe sie versprochen, nichts zu verraten, bevor sie zu mir in den Traum durfte. Eine gewissenhafte und vertrauenswürdige Richterin, die Geheimnisse bewahrt. Nun auch die Geheimnisse der Ewigkeit.
Ich wache auf.
Geht das zusammen? Zu wissen, dass im Tod der Körper zerfällt und zu spüren, dass da noch eine Präsenz ist? Ich könnte es leicht abtun. Klar, da finden chemische Prozesse im Kopf statt. Mein Gehirn ist darauf trainiert, mit einer schönen Fantasie die schwierigsten Situationen zu meistern. Faszinierende Prozesse, aber Materie nur, aus dem Nichts entstanden und irgendwann in einer Supernova verglühend. Kein Geist. Kein Gott.
Rowling lässt ihren Helden Harry Potter auf seinen verstorbenen Zauberlehrer treffen. Harry fragt: Geschieht das wirklich oder ist das nur in meinem Kopf?
Dumbledore antwortet:
“Natürlich passiert es in deinem Kopf, Harry, aber warum um alles in der Welt sollte das bedeuten, dass es nicht wirklich ist?”
Irgendwann muss man den Sprung ins Wasser tun und sehen, ob es trägt. Seit Jahrtausenden trägt der Glaube und stiftet Sinn. Keine Mutter setzt ein Kind in die Welt mit dem Gedanken, dass es ins Nichts versinken wird. Nicht umsonst ist es besonders schmerzhaft, wenn das eigene Kind vor den Eltern stirbt. Das liegt außerhalb der Vorstellung von Eltern und geschieht doch ...
Doch ausgerechnet die Generation, die mit einem kleinen Gerät in der Hand problemlos mit Menschen in der ganzen Welt sprechen kann und in wenigen Stunden von London nach New York fliegt, ausgerechnet diese Generation, die Wunder erlebt, die selbst kühne Träumer in Jahrtausenden nicht für möglich gehalten hätten, verweigert sich der Vorstellung, dass dieses Leben über Zeit und Raum hinaus einen Sinn haben könnte und glaubt lieber daran, dass alles ins Nichts fällt. Punkt. Aus.
Ur-Erfahrungen des Glaubens verdichten sich in alten Büchern wie der Bibel:
Einst gingen zwei Trauernde von Jerusalem weg. Unterwegs kam jemand zu ihnen. Später erkannten sie, dass sie Jesus begegnet waren, dem Gekreuzigten.
So etwas erwarte ich nicht. Doch ich teile die Erfahrung, dass Menschen, die man sehr liebt, nach ihrem Tod plötzlich präsent sind. Für eine Millisekunde. In einem Traum, in einem Sonnenuntergang, in der Fußgängerzone oder auf einem Waldweg. Da bricht etwas durch, wie die Sonne durch die Bäume.
Und ich begreife, warum nach orthodoxer Tradition die Ehe eben nicht mit dem Tod aufgelöst ist. Solange die Liebe nicht stirbt, ist die Beziehung noch lebendig...
Der Tod beendet das Leben, aber nicht die Liebe.
Eigentlich war mir das in der Todesstunde von Martina klar. Deshalb auch meine Abschiedsworte, die gleichsam den Trauspruch verlängern:
Auch der Tod kann uns nicht trennen!
Zu viel spekulieren will ich nicht. Ich will vorsichtig von dem reden, was ich erfahre. Andere haben eigene Wege durch die Krisen des Lebens. Für viele mag es gut sein, wieder zu heiraten. Manche sollten sich lange vor dem Tod trennen von einem Partner, der ihre seelische und körperliche Gesundheit gefährdet. Folge Deiner Erfahrung auf Deinem eigenem Weg. Ich erzähle nur von meinem Weg.
Ich hatte jetzt zwei schöne Träume. Martina lächelt. Wirkt nach aller Angst und Sorge der letzten Jahre erlöst. Der Tod ist eine Zäsur. Wir sinken ins Nichts. Und doch stärkt mich die Erfahrung der Glaubenden: Das Leben, das aus Sternenstaub entstand, wird am Ende der Zeit neu aus dem Nichts erstehen und am Ende siegen. Leid und Schmerz bestimmen unsere Existenz. Unterdrückung und Not begegnen überall. Die Liebe aber, die wir anderen geben, wird bleiben. Sie hat das letzte, ewige Wort. Nichts ist verloren. Alles ist möglich.