1946: zwei 13jährige Teenager nehmen Abschied von ihrer Heimat. Sie werden sich erst viel später kennenlernen. Ernst gräbt ein Loch und verbuddelt seine Eisenbahn. Ein Bach plätschert im Hintergrund von den Hängen der Schneekoppe durch das Dorf Marschendorf. Anna lebt ca 160 Kilometer weiter östlich im Altvatergebirge. Hinter einer Hecke versteckt beobachtet sie die Ankunft der sowjetischen Soldaten. Ihr Bruder vergräbt Familienerinnerungen im Wald.
Google Maps schlägt als eine der kürzesten Routen den Weg über das heute polnische Glatz vor, wo die Vorfahren meiner Frau herkommen. Auch ihre Eltern mussten als Kinder ihre Heimat verlassen.
Es ist kein freiwilliger Abschied. 1938 hatten viele Sudetendeutsche Hitler als vermeintlichen Retter begrüßt. Minderheiten und politische Gegner der Nazis wurden verfolgt und ermordet. Auch in den Sudeten. Noch während dem Zweiten Weltkrieg wurde "die Abschiebung" der Deutschen aus den Sudeten beschlossen:
Den Deutschen wird mitleidlos und vervielfacht all das heimgezahlt werden, was sie in unseren Ländern seit 1938 begangen haben, erklärte Eduard Benes 1943 in London. Das Potsdamer Abkommen setzte den Rahmen für eine Vertreibung, die längst vorher begann. 700 Jahre Geschichte endeten innerhalb weniger Monate.
In einem kleinen Rucksack verstaute mein späterer Vater ein Buch mit Bildern des Riesengebirges. Das Buch ist heute bei mir in Leipzig im Wohnzimmerschrank.
Meinen Eltern war wichtig, den Hass nicht an die nächste Generation weiterzugeben. Und so erzählten sie zwar von den Tränen und von der Trauer um die verlorene Heimat. Aber sie legten in unser Herz auch das Bewusstsein dafür, dass Geschichte sich nicht wiederholen soll.
Die Charta der Heimatvertriebenen von 1965 zeigt, dass diese Haltung von einer Mehrheit getragen wurde:
Der Blick richtete sich auf den Aufbau einer neuen Heimat für die nächste Generation. Entsprechend empfinden sich die Kinder und Enkel der Vertriebenen heute als Bürger von Altbayern, Sachsen oder Hessen. Längst können die Landsmannschaften daher nicht mehr beanspruchen, für die Nachfahren der Vertriebenen zu sprechen. Und die Gebirge der Vorfahren werden nur noch besucht, um zu verstehen, welche Wurzeln mich prägen. Und natürlich verfolge und unterstütze ich alle Bemühungen, Brücken zu den Menschen aufzubauen, die heute in den Sudeten leben. Wir leben zusammen auf einem kleinen blauen Punkt im Universum und können es uns heute weniger als je zuvor leisten, uns gegenseitig zu bekämpfen und auszugrenzen.
Versöhnung bedeutet nicht, alles zu vergessen, was in der Geschichte war. Es bedeutet auch nicht, Verharmlosungen stehen zu lassen. Es bedeutet, gemeinsam, die Geschichte multiperspektivisch zu erforschen, um zu verstehen, was zu Spaltung führt und wie wir wieder zueinander finden können.
Unter den ehrenamtlichen Helfern, die 2015 den Flüchtlingen halfen und bis heute unterstützen sind auch viele ehemalige Heimatvertriebene und deren Nachfahren. Fremden Heimat zu geben: auch das ist eine Antwort auf die Geschichte.